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Die Debatte um den Leitindikator: Ein Experte gibt Auskunft

Die Hospitalisierungsrate steht ebenfalls hoch im Kurs als neuer Leitindikator. (Symbolbild)
Die Hospitalisierungsrate steht ebenfalls hoch im Kurs als neuer Leitindikator. (Symbolbild)Bild: Digital Vision / Morsa Images
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Hospitalisierung, Inzidenz, Impfquote: Alle Infos zur Debatte über die Corona-Indikatoren

03.08.2021, 11:1510.08.2021, 13:40
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Seit Wochen läuft in Deutschland die Debatte um einen neuen Indikator zur Bewertung der Corona-Pandemie. Die Diskussion verläuft zwischen dem Robert-Koch-Institut (RKI) auf der einen Seite – und Vertretern von Politik und Wirtschaft auf der anderen. Während letztere fordern, sich nicht nur auf die Inzidenz zu konzentrieren, sondern beispielsweise auch auf die Hospitalisierungsrate, also die Krankenhauseinweisungen, plädiert der RKI-Chef Lothar Wieler dafür, die Inzidenz als Hauptindikator beizubehalten.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) veröffentlichte ein Konzept, nach dem die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz sogar um elf weitere Indikatoren ergänzt würde. Diese würden die drei Bereiche Infektionslage und Testungen, Impfungen und Hospitalisierung abdecken. Am heutigen Dienstag wird auf dem Corona-Gipfel final auch über diese Fragen abgestimmt.

Watson hat mit dem Epidemiologien Markus Scholz darüber gesprochen, ob es sinnvoll ist, den Inzidenzwert zur Bewertung der Corona-Lage zu ersetzen – und zusammengefasst, worum es in der Diskussion geht.

Was misst die Inzidenz genau?

Der Inzidenzwert gibt an, wie viele Menschen sich während eines bestimmten Zeitraums neu mit dem Coronavirus angesteckt haben – er ist also sozusagen eine Neuansteckungsrate. Während der Corona-Pandemie wird meist die 7-Tage Inzidenz gemessen, also die Anzahl der Menschen pro 100.000 Einwohner, die sich in den vergangenen sieben Tagen mit Corona angesteckt haben.

Nicht jeder Infizierte erkrankt auch zwangsläufig an der vom Coronavirus ausgelösten Krankheit Covid-19: Manche Menschen haben gar keine oder fast gar keine Symptome, es gibt milde oder schwere Verläufe.

Die Inzidenz sagt also zunächst nicht direkt etwas über die Zahl der Erkrankten oder schwer Erkrankten aus. Der Unterschied zwischen Infektion mit dem Coronavirus und Erkrankung an Covid-19 ist gerade mit Blick auf die Impfungen wichtig: Wer geimpft ist, hat einen hohen Schutz gegen eine Ansteckung mit dem Coronavirus – und einen noch höheren gegen eine schwere Erkrankung an Covid-19.

Warum soll die Inzidenz als Leitindikator abgewechselt werden?

Politiker wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Vertreter der Wirtschaft wollen neben der Inzidenz auch die Lage in den Kliniken als Kennzahl in die Bewertung mit einbeziehen. Also die sogenannte Hospitalisierungsrate, die angibt, wie viele Menschen wegen einer Corona-Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Dazu äußerte sich Spahn auch auf seinem Twitter-Account:

Die Erklärung für diese Argumentation ist: Geimpfte Personen weisen häufig einen leichteren Krankheitsverlauf auf. Allerdings ist die Delta-Mutante des Coronavirus viel ansteckender – und die Spätfolgen des sogenannten Long-Covid-Syndroms, an dem auch Erkrankte mit milden Verläufen noch Monate nach der Ansteckung leiden, sind unzureichend erforscht.

Der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, sprach sich dafür aus, weiterhin die Inzidenz als "Leitindikator" für die Entwicklung in der Corona-Pandemie zu betrachten. Er will an der Niedrig-Inzidenz-Strategie festhalten.

"Die Kennzahlen zum Pandemiemanagement sollten sich an den Zielen orientieren, die man mit dem Pandemiemanagement verfolgen will."
Epidemiologe Markus Scholz

Der Epidemiologe Markus Scholz sagt dazu im Gespräch mit watson: "Die Kennzahlen zum Pandemiemanagement sollten sich an den Zielen orientieren, die man mit dem Pandemiemanagement verfolgen will."

Scholz plädiert für eine Erweiterung der Inzidenz als Leitindikator: "Eine natürliche Durchseuchung ist aufgrund der noch unzureichenden Durchimpfung aktuell noch zu riskant. Deshalb wäre es meines Erachtens sinnvoll, eine Kombination aus R-Wert, Inzidenz und Impfquote zu betrachten, um die Kontrolle über die Pandemie zu behalten." Unter dem "R‑Wert" wird die Reproduktionszahl verstanden, die beschreibt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt.

Sein Vorschlag ist, weitere Versorgungsaspekte in die Bewertung des Pandemiegeschehens einzubeziehen – gerade mit Blick auf das Risiko für Kinder und Jugendlichen. Es könnte "die Verfügbarkeit pädiatrischer (zur Kinderheilkunde gehörend, Anm.d.Red) Kapazitäten relevant werden, wenn in der vierten Welle sehr viele Kinder und Jugendliche erkranken sollten", so Scholz gegenüber watson.

"Eine natürliche Durchseuchung ist aufgrund der noch unzureichenden Durchimpfung aktuell noch zu riskant."
Epidemiologe Markus Scholz

Für Scholz ist die Belegung von Krankenhausbetten nun ein weiterer, zunehmend unabhängiger Parameter, den man berücksichtigen könnte. Derzeit werde zwar keine Überlastung der Gesundheitsversorgung durch die vierte Welle erwartet, "doch bei sehr hohen Fallzahlen könne es auch verstärkt zu Impfdurchbrüchen bei Geimpften kommen, die dann ebenfalls kritisch verlaufen können. Zudem kann Long-Covid auch nach leichten Verläufen auftreten", so Scholz. Diese Problematik sei noch nicht ausreichend untersucht. Deshalb plädiert auch der Leipziger Epidemiologe dafür, die Infektionszahlen weiterhin so niedrig wie möglich zu halten.

Warum die Inzidenz abgelöst werden sollte, begründet der Vorstandsvorsitzende der Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) Gerald Gaß, in einer Pressemitteilung wie folgt: "Aus unserer Sicht ist es zwingend erforderlich, diese Kennzahlen transparent und öffentlich darzustellen, um die notwendige Akzeptanz für bevorstehende politische Entscheidungen zu erreichen. Allein die Inzidenz noch als Maßgabe dafür zu nehmen, wann Beschränkungen von Grundrechten im Herbst erfolgen könnten, ist absolut nicht mehr ausreichend.

Zu den zwölf Indikatoren im Konzept gehören die Hospitalisierungsrate, eine nach Alter aufgeschlüsselte Impfquote, die Belegung von Intensivkapazitäten, die Positivrate bei Corona-Tests und die Steigerungsquoten – sowohl der Inzidenzwerte als auch der Hospitalisierungsraten.

Welche Folgen hat die weiter steigende Inzidenz?

Angesichts der aktuellen Entwicklung der Inzidenz, also der Neuinfektionen in Deutschland, warnen Experten vor der vierten Welle. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte gegenüber der "Welt", die Delta-Mutante des Coronavirus werde sich in den kommenden Monaten in ganz Europa verbreiten: "Durch Reiserückkehrer wird sich die Mutante spätestens im Herbst auch in Deutschland großflächig ausbreiten."

Je höher die 7-Tage-Inzidenz ist, desto schneller steigen die Fallzahlen und desto schwieriger wird es, Kontakte nachzuverfolgen und die Infektionszahlen niedrig zu halten. Deswegen, argumentieren die Befürworter der Niedrig-Inzidenz-Strategie, sollten die Fallzahlen und Inzidenzen möglichst niedrig gehalten werden. Denn auch junge Menschen können schwer an COVID-19 erkranken oder lang andauernde Gesundheitseinschränkungen durch "Long Covid" entwickeln.

Ein weiteres Problem einer hohen Inzidenz ist, dass immer mehr Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt werden müssen und damit am Arbeitsplatz fehlen. Wie problematisch das werden kann, sieht man in Großbritannien, wo faktisch alle Corona-Beschränkungen aufgehoben wurden – und seit Wochen von einer "Pingdemic" die Rede ist: dem Phänomen also, dass die britische Corona-App des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS täglich zehntausenden Menschen mitteilt, sie müssten wegen eines Risikokontakts in Quarantäne gehen.

Was ist eine Niedrig-Inzidenz-Strategie?

Eine Niedrig-Inzidenz-Strategie bedeutet, sich in politischen Entscheidungen wie Lockdowns und Corona-Vorlagen am Inzidenzwert zu orientieren. Dementsprechend gehen alle Bemühungen dahin, die Inzidenz, also die Corona-Neuinfektionen, konstant niedrig unter einem bestimmten Wert zu halten. Gesundheitsminister Spahn und mehrere Ministerpräsidenten der Bundesländer wollen diese Strategie jedoch erweitern.

Wer fällt die Entscheidung?

Bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 10. August entscheiden Bund und Länder, welches Ziel sie hinsichtlich ihrer Corona-Politik verfolgen. Es wird also festgelegt, ob ausschließlich eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden soll – oder ob die Politik anstrebt, die Nachverfolgung der Corona-Infektionen sicherzustellen und somit die Inzidenz niedrig zu halten. Je nachdem wird der neue Leitindikator festgelegt.

Welche Aussagekraft hat die 7-Tage-Inzidenz, wenn immer mehr Menschen gegen COVID-19 geimpft sind?

Die 7-Tage-Inzidenz, die bislang bei politischen Entscheidungen im Fokus stand, gibt die Geschwindigkeit an, mit der sich die Infektionen verbreiteten. Es gilt: Je mehr Fälle auftreten, desto mehr schwere Verläufe, Krankenhauseinweisungen und Todesfälle werden registriert.

Die 7-Tage-Inzidenz ist nach Ansicht des RKI weiterhin wichtig, um die Situation in Deutschland zu bewerten und frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle zu initiieren. Aktuell steigt die Grundimmunität in der Bevölkerung durch Impfungen an. Vor allem die älteren Menschen sind daher besser geschützt, weshalb sich das Virus derzeit vor allem in jüngeren Altersgruppen verbreitet. Diese erkranken in der Regel seltener schwer an Corona. Das bedeutet, dass – wenn mehr jüngere Menschen betroffen sind – etwas höhere Inzidenzen nicht automatisch zu vielen Krankenhauseinweisungen führen und das Gesundheitssystem nicht sofort an seine Grenzen stößt.

"Die Inzidenzgrenzen waren und sind willkürliche politische Festlegungen. Von 'bester Option' kann also keine Rede sein", so der Epidemiologe Markus Scholz gegenüber watson. Andererseits seien sie sehr einfach zu bestimmen und andere Indikatoren – wie die Belegungsrate der Intensivbetten – folgten bisher der Entwicklung. "Da aber Risikogruppen weitgehend geimpft sind, ist dieser Zusammenhang zunehmend schwächer, sodass die Inzidenz weiter an Bedeutung verliert."

Die Bedeutung der 7-Tage-Inzidenz nimmt damit ab, die Bedeutung der Indikatoren Hospitalisierungen und ITS-Behandlungen nimmt zu. Welche Indikatoren ausschlaggebend für Maßnahmen ist, bleibt jedoch eine politische Entscheidung. Eine wachsende Grundimmunität in der Bevölkerung bedeutet jedoch nach Aussagen des RKI nicht, dass die 7-Tage-Inzidenz vernachlässigt werden kann.

Noch sind viele Millionen Menschen in Deutschland noch gar nicht oder nicht vollständig geimpft, für Kinder unter 12 Jahren ist noch keine Impfung zugelassen.

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