Achtzehn Frauen sitzen im Kreis. Der Reihe nach zündet jede von ihnen eine Kerze an. Durch die winzigen Flammen erhellt sich der Raum. Das warme Licht schmiegt sich gegen die vom Leben gezeichneten Gesichter. Seit vierzig Jahren trifft sich der "Mutterkreis" in der evangelischen Kirche "Am Friedrichshain".
Anfang dieses Jahres begrüßten die älteren Damen die junge Pfarrerin Angelica Dinger in ihrer Runde.
Mit kraftvoller Stimme trägt sie nun ihre Andacht zur Adventsfeier vor. Eine Strähne ihrer Kurzhaarfrisur fällt dabei immer wieder in ihr Gesicht. "In der Adventszeit geht es um das Warten und Erwarten." Dinger spricht ihre Worte klar und betont aus. Dieses Jahr warte die Gemeinde auf das Ende des Krieges in der Ukraine, sagt sie. Die Köpfe der Frauen nicken einheitlich. Ein Seufzen geht durch die Runde.
Krieg.
Wie können Menschen von Raketen in Fetzen gerissen werden und Eltern vor den Augen ihrer Kinder sterben – wenn es einen Gott gibt?
"Im Leben gibt es Momente, wo man seine Probleme vor Gott trägt, aber das Gefühl hat, da ist gar keiner am anderen Ende", erzählt die Pfarrerin. Auch sie hatte solch einen Moment als 19-Jährige in einem Kinderdorf in Peru. Dort half sie als Freiwillige.
Oft wollte ein kleiner Junge vor dem Schlafengehen gemeinsam mit ihr beten. "Dabei rief er nach seiner verstorbenen Mutter", erzählt die Theologin mit leiser Stimme. Sie richtet den Blick zu Boden. Nach einem kurzen Moment fügt sie hinzu: "Da wusste ich auch nicht, was ich beten soll."
Auch sie frage sich, wie kann es einen liebenden Gott geben – bei all diesen grausamen Schicksalen in der Welt? In der Gottesbeziehung sei nicht immer alles gut, meint sie und gießt Tee in ihre Tasse nach. Ihre Fingernägel sind lila lackiert. Mehrere goldene Ringe leuchten im Licht der brennenden Kerze vor ihr. In ihrem Büro stehen nur wenige Möbel. Ein Schreibtisch, ein Schrank, ein Gästetisch mit zwei Stühlen und ein Flipchart, auf dem "Be happy" geschrieben steht.
Die gebürtige Westfälin stammt aus einer religiösen Familie. Religion sei für die 37-Jährige schon immer ein spannendes Thema gewesen. Warum sind wir hier? Was ist der Sinn des Lebens? Über diese Fragen könnte sie stundenlang nachdenken. "Religion ist ein Feld, bei dem ich alle Fragen zwischen Himmel und Erde besprechen kann", meint sie.
Dabei stand für die Theologin nicht immer fest, dass sie Pfarrerin werden würde. Zunächst engagierte sie sich bei den Jungsozialist:innen, später wurde sie Referentin der SPD-Parteizentrale für Religionspolitik. "Nach sechs Jahren hatte ich das Gefühl, es ist Zeit für einen neuen Schritt", erklärt Dinger. In der politischen Welt sei ihr die persönliche Dimension des Religionsthemas manchmal zu kurz gekommen. "Was mir besonders liegt und wofür ich brenne, sind die Themen von Menschen, die glauben", erklärt sie.
Dabei käme sie mit allen Milieus der Gesellschaft in Kontakt. Der Tod ist ein ständiger Begleiter der Pfarrerin. Denn sterben müssen alle – ob Arme oder Reiche. Doch gerade diese bunte Mischung an menschlichen Begegnungen fasziniere sie an ihrem Beruf. Dabei tauscht sie sich auch mit jenen aus, die sich von der Kirche abwenden wollen.
"Warum verlieren so viele Menschen den Kontakt zur Kirche?", frage sie sich oft. 2021 haben eine halbe Million Menschen die evangelische Kirche verlassen. Laut Dinger nimmt das religiöse Wissen stark ab. "Ich wünsche mir, dass wir die Erwartungen an die Menschen senken und es ihnen vereinfachen, mitzumachen", meint Dinger. Die Kirche müsse wieder mehr zu den Menschen kommen.
Daher gehe sie oft von Tür zu Tür: ihre Gemeindemitglieder besuchen. Sie bringt ihnen kleine Geschenke und benachrichtigt sie über anstehende Veranstaltungen. Oftmals werde sie dabei gefragt, ob sie wirklich die Pfarrerin sei.
"Die Leute schauen mich verwundert an und fragen ein- oder zweimal: Und sie sind wirklich die Pfarrerin?", erzählt Dinger. Lächelnd schüttelt sie ihren Kopf. Die großen, runden Ohrringe mit Leopardenmuster schaukeln an ihren Ohren. "Dass ich eine Frau bin, ist schon noch ein Thema", sagt sie und rückt das Brillengestell auf dem Nasenrücken zurecht.
Gerade bei kirchenfernen Leuten gebe es immer noch einen Überraschungsmoment. Wie in der Politik werden Frauen auch in der Kirche oft anders wahrgenommen, meint die Pfarrerin. Oft erwarten sie wohl jemand anderen, sagt sie schulterzuckend und pustet die Kerze auf dem Tisch aus. "Wir sollten los", meint die junge Frau und steht auf.
Bevor es zu dem Mutterkreis geht, springt die Pastorin noch schnell ins Zimmer der Sekretärin, um zwei Dokumente zu unterschreiben. Bürokratie nehme einen großen Teil ihrer Arbeit ein. Abrechnungen, Finanzpläne und die Instandhaltung der alten Kirchen. "Es muss nur einmal kräftig regnen und schon ist ein Dachziegel locker", erklärt sie auf dem Weg vom Pfarrhaus zur Kirche.
Viel Freizeit bliebe ihr nicht. Der Beruf sei nicht besonders familienfreundlich. So werde sie zu Heiligabend noch um 23 Uhr einen Gottesdienst halten. Ihr Mann sei sehr geduldig mit ihr, sagt sie lachend. Aber wenn es der Terminkalender erlaubt, gehe sie gern mit Freunden aus. "Ich tanze auch gern mal in einem der Berliner Clubs", sagt sie. Neben Joggen und Fahrradfahren sei dies ihr Ausgleich zum stressigen Alltag.
Unterwegs grüßt sie den Leiter der Kirchen-Kita auf dem Spielplatz. Die Gemeinde habe so viele Angebote: Kindergarten, Gottesdienste, Chöre, Seelensorge und Seniorengespräche. Dazu zählt auch der Mutterkreis, der sich alle zwei Wochen trifft.
Dinger öffnet die schwere Holztür der Kirche und betritt dort einen kleinen Raum. Sofort legt sich eine angenehme Wärme auf die kalten Wangen. Der Duft nach Kaffee und Keksen liegt in der Luft. Die älteren Damen unterhalten sich so angeregt, dass man sein eigenes Wort kaum versteht. Sie begrüßen die Pfarrerin herzlich in ihrer Runde und weisen ihr einen Platz am festlich geschmückten Tisch zu.
Aufmerksam widmet sich Dinger ihren Gesprächspartnerinnen. "Gab es beim letzten Mal auch Wein?", fragt sie neckisch ihre Sitznachbarin. "Nur Punsch", antwortet diese lachend. Eine andere Teilnehmerin erklärt, dass dieser Kreis ihr Kraft und Wärme schenke. "Die Männer sterben zuerst", sagt sie. Zwischen ihren Worten sitzt eine tiefe Traurigkeit.
Hier in der Kirche finde sie Halt und den Austausch. Das Alleinsein ist laut Dinger ein großes Thema in ihren wöchentlichen Sprechstunden. Gerade jetzt zur Weihnachtszeit fühlen sich viele einsam. Aber auch die Sorgen aufgrund der steigenden Energiekosten belasten die Menschen. Bei solchen Gesprächen bringt sie immer einen Teil von sich selbst ein.
Wie auch jetzt in der Runde des Mutterkreises. Die Pfarrerin schenkt den Frauen ihre volle Aufmerksamkeit. Dabei leuchten ihre Augen und die Wangen glühen. Im Raum liegt viel Wärme, die nicht nur von den Heizkörpern ausgeht. Die Frauen haben schon viel gemeinsam durchlebt, erklärt Dinger. Ob Geburten, gescheiterte Ehen oder Krankheit – sie gehen durch dick und dünn.
Eine der älteren Damen schlägt mit einem Löffel gegen eine Klangschale, worauf Stille einkehrt. Dinger beginnt mit ihrer Andacht. "In der Adventszeit geht es um das Warten und Erwarten", sagt sie und spricht von der Pandemie sowie dem schrecklichen Krieg in der Ukraine.
Dass man an seinem Glauben manchmal zweifelt, ist Dinger zufolge menschlich. "Der Glauben ist ein beständiges Suchen, er schenkt uns aber stets Hoffnung", sagt die junge Pfarrerin.