Die Ampel am Großen Stern in Berlin schaltet auf Grün, aber es geht nicht voran. Die Straßen um die Siegessäule haben Aktivisten der Umweltgruppe Extinction Rebellion (zu deutsch: Aufstand gegen das Aussterben) besetzt.
Mit Blockaden und anderen Protestaktionen wollen sie nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Großstädten auf die drohende Klimakatastrophe aufmerksam machen. Der Fokus der Aktivisten liegt "auf der Schließung symbolischer und politischer Orte im Zentrum Berlins", kündigte die Bewegung im Vorfeld die Aktion an. Die Demonstranten wollen gewaltfrei bleiben, befolgen aber die Taktik des zivilen Ungehorsams. Sprich: radikaler Protest, dessen Auswirkungen man zu spüren bekommt – keine angekündigten Demo-Spaziergänge.
Laut ist der Protest jedoch nicht. Die Menschen sitzen oder liegen ruhig auf der Straße – lesen, unterhalten sich oder schlafen. In Schlafsäcken gewickelt hocken sie am Fuße der Siegessäule und verbringen den Tag sehr entspannt.
"Wir haben vorhin Yoga gemacht oder unterhalten uns einfach", sagt Ole Bestem aus Hildesheim. Der 16-Jährige will die ganze Woche in Berlin an den Protesten teilnehmen.
Eva Hoops und Marah Bandmann sind sich noch nicht so sicher, wie lange sie bleiben. Je nachdem, wie das Wetter wird, erzählen sie. Die beiden sind am Vorabend aus Bremen angereist. "Das war etwas spontan", erzählt Eva und grinst. Die 13-Jährige engagiert sich auch in ihrer lokalen Ortsgruppe der Fridays-for-Future-Bewegung.
"Jeden Freitag habe ich die Schule geschwänzt", sagt sie ein wenig stolz. Dieser Protest sei aber was anderes, ist sie der Meinung.
"Das ist halt nichts, was man ignoriert", sagt Ole. Die Friday-for-Future-Teilnehmer würden klassisch demonstrieren, die sogenannte "XR"-Bewegung sorgt für mehr Aufmerksamkeit, findet er.
Den Aktivisten wird nachgesagt, dass sie – anders als die Bewegung um Greta Thunberg – bereit sind, Gesetze zu brechen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Doch wie sieht das in der Realität aus?
"Ich gehe nur bis Level eins", wirft Eva ein. Was ist das? Level 0 sei die simple Anwesenheit, Level 1 die Teilnahme an Demos oder in Camps und vor allem "Aufstehen und Gehen, wenn die Polizei das sagt", ergänzt Eva. Beim Aktionslevel 2 bleibe man solange, bis die Polizei einen wegtrage und Level 3 wird beim Anketten an Gebäuden oder ähnlichem erreicht, erklären die Schüler.
Wo ziehen die jungen Aktivisten die Grenze? Wenn es nach Oles Vater geht, bei Level 1. Er unterstützt seinen Sohn und hat ihn nach Berlin begleitet. Wie die anderen hockt er, ein wenig abseits, auf einer Matte auf dem Asphalt und schaut in die Sonne. "Wir sind in Sachen Umweltschutz einer Meinung", sagt er, "im Gefängnis will ich meinen Jungen aber nicht sehen."
Weiter gehe er aber auch nicht. Rebellion light also? Wenn man mit der Polizei telefoniert, kriegt man jedenfalls diesen Eindruck.
Überraschenderweise findet ein Polizeisprecher gegenüber watson nur positive Worte für die Aktivisten.
Der Polizeisprecher klingt am Telefon, als käme er gleich ins Schwärmen. Über die Zusammenarbeit mit den Organisatoren hat er nur Positives zu berichten, lobt, dass es klare Ansprechpartner gegeben habe. Ziviler Ungehorsam? Selten hat man Polizisten bei solchen Aktionen derart happy gehört.
Die Menschen singen, musizieren, tanzen, verbringen den Tag mit Freunden und Familie. Eine friedliche Stimmung von jungen Menschen in viel zu weiten Pullovern, derben Schuhen und Stirnband um den gewollt-zersausten Dutt.
Doch irgendwie ist es auf einmal unruhig. Die Polizei, die den Tag über lediglich in Zweier-Trupps über das Areal geschlendert ist, geht schnellen Schrittes zur Siegessäule.
Einige Aktivisten haben auf der ersten Plattform ein Transparent entrollt: "Rebell for life". Nach gut fünf Minuten ist das große, grüne Plakat verschwunden, Aktivisten und Polizei verlassen den Aussichtspunkt – ohne großes Aufhebens. Level 1 eben.
In der Zwischenzeit wurde auf dem stilisierten Holzschiff "Rebella" die Extinction-Rebellion-Flagge gehisst.
Die ganze Woche wollen die Aktivisten den Großen Stern besetzt halten, Tag und Nacht. Auch die Polizei wird in den Morgenstunden wieder Präsenz zeigen, heißt es.
Gegen halb eins ist es dann so weit. Carola Rackete spricht. Ein Lächeln huscht ihr nicht übers Gesicht. Sie meint es ernst. Sie sieht es als ihre "moralische Pflicht", gegen die zerstörerische Politik mit zivilem Ungehorsam zu rebellieren. "Wenn wir so weiter machen, wird sich die Welt weiter erwärmen." Die Botschaft: Es ist ernst.
So sieht es zwar nicht aus, aber auch Pia aus Hamburg meint es ernst. Lässig liegt sie in einer Hängematte, die sie zwischen Verkehrsschilder aufgehangen hat und liest: Ronja Räubertochter.
Die 19-Jährige hat sich für den Protest eine Woche Urlaub genommen. Auch ihr liegt das Klima am Herzen, deshalb macht sie bei XR mit. Fridays for Future gefalle ihr grundsätzlich auch, nur war sie auf Reisen, als die Bewegung in Deutschland gestartet ist. Mit dem Bus und der Bahn natürlich.
Mit dem Bus ist auch Carola Rackete unterwegs. Am Mittwoch geht es für die Kapitänin nach Paris und London, wo sie erneut Klimaproteste unterstützen will.
"Wir müssen hier bleiben und rebellieren, bis die Regierung den Notstand ausruft", ruft Rackete ihren Zuhörern zu. Und auch wenn sie viel lieber in der Natur wäre, wie sie sagt, weiß sie, dass sich ohne zivilen Ungehorsam nichts in der Politik ändern wird – pure Motivation für die Rebellen am Großen Stern.
Die Polizei hat in den frühen Abendstunden begonnen, die Teilnehmer zu bitten, den Potsdamer Platz und den Großen Stern zu räumen. "Wir haben keinen festen Zeitplan, wann, aber es muss zu einer Lösung kommen", sagte Sprecher Winfried Wenzel zu watson. "Wir sind zuversichtlich, dass wir zu einer Lösung kommen."