Dieser Flyer braucht keine Bilder, um dramatisch zu klingen. Am 1. September 1939, steht darauf, überfielen die Nazis Polen und der Zweite Weltkrieg begann. Direkt darunter heißt es: "Am 1. September 2019 wählen wir in Sachsen einen neuen Landtag." Und noch eins tiefer: "Am 1. September 2019 werden viel zu viele Menschen der rückwärtsgewandten Politik des rechten Flügels der AfD ihre Stimme geben" – 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution würden die Rechtspopulisten im Osten jetzt die Machtfrage stellen.
Es ist ein heftiger Vergleich. Dahinter steckt die Initiative "9. November" – ein Bündnis aus Leipzig und Umgebung, das die Erinnerung an NS-Verbrechen aufrechterhalten will. "Dass die AfD an einem historisch so belasteten Datum dermaßen viele Stimmen sammeln wird, finde ich erschreckend", sagt November-Initiatorin Gesine Oltmanns.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik könnten Vertreter rechtsradikaler Meinungen auch die stärkste Fraktion in gleich zwei Landtagen stellen. Oltmanns hat deswegen eine Demo in Leipzig angemeldet. Sie will am Wahltag mit Mitstreitern zusammenkommen, noch bevor die Ergebnisse über die Bildschirme flimmern. "Nach der Bundestagswahl hingen wir alle völlig in den Seilen, und dieses Hellblau schien überall in Ostdeutschland", sagt Oltmanns. "Das darf sich in Sachsen nicht wiederholen. Wir müssen zusammen verhindern, dass die AfD einen Weg in unseren Alltag findet."
Wer im Vorfeld mit Aktivistinnen, Bündnissen, Expertinnen und Politikern in Sachsen spricht, der hört viele solcher Durchhalteparolen. Ihre Absender erbringen den Gegenbeweis zum oft beschriebenen Eindruck, Bundesländer wie Sachsen bestünden mehrheitlich aus Wutbürgerinnen, Pegida-Demonstranten und Neonazis. Das Gegenteil ist der Fall: Auf rund 25 Prozent AfD-Wähler kommen 75 Prozent, die sie nicht wählen. Und die Speerspitze dieser 75 Prozent steht der völkischen Alternative im Osten als aktive Szene gegen Rechts gegenüber. Sie kommt aus Leipzig-Connewitz, aus der Neustadt Dresdens, aber auch aus Plauen und Freital.
Aber die Aktivistinnen und Aktivisten sind gerade zwiegespalten. Auf der einen Seite gibt es jene, die keine Panik vor dem 1. September heraufbeschwören wollen. Genauso breitet sich aber auch die Angst aus, dass ab dem Wahltag der sowieso schon große Druck auf all jene zunehmen wird, die gegen Rechts und für Geflüchtete arbeiten. Dass es zu einer Eskalation der Gewalt kommen könnte, falls die AfD erfolgreich ist.
Ein Lokalpolitiker spricht gegenüber watson sogar vom "Tag X", auf den sich der "Widerstand" gegen Rechts in Ostdeutschland vorbereiten müsse.
Je mehr Prozentpunkte die AfD bei den Wahlen sammelt, so die Befürchtungen, desto mächtiger könnten sich auch ihre rechtsradikalen Anhänger fühlen. So ähnlich wie beim Brexit-Votum 2016: Damals kam es nach dem Volksentscheid über den Austritt Großbritanniens aus der EU zu einem heftigen Anstieg rassistischer und xenophober Angriffe auf der Insel. Die Gewalt ging von rechtsradikalen Brexit-Befürwortern aus und plötzlich fingen dann auch bisher unauffällige Bürgerinnen und Bürger an, gegen Ausländer zu hetzen. Ähnliches passierte auch nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016. Das Southern Poverty Law Center registrierte in den Tagen nach dessen Sieg hunderte Fälle von Gewalt und Hasskriminalität gegen Latinos, Muslime, LGBT-Personen und andere Minderheiten. Droht in Ostdeutschland jetzt ähnliches?
"Wir merken seit den Erfolgen der AfD bei den Bundestags- und Kommunalwahlen, dass die rechtsradikale Szene hier selbstbewusster, ausfälliger und offensiver geworden ist", sagt Juliane Nagel. Sie sitzt für die Linksfraktion im sächsischen Landtag und pflegt seit Jahren enge Kontakte mit Antifa-Gruppen in Leipzig-Connewitz und Umgebung. Sie befürchtet ein doppeltes Bedrohungsszenario, falls die AfD eine Mehrheit der Stimmen bekommt:
Wer mit Geflüchteten arbeitet, sieht die kommende Wahl mit gemischten Gefühlen. Ein Sprecher des sächsischen Flüchtlingsrats etwa sagte gegenüber watson: Die Helfer seien wegen möglicher Übergriffe durchaus alarmiert, man wolle diese aber nicht durch Angst-Bekundungen unnötig heraufbeschwören.
Wie Politikerin Nagel verweist auch er auf den stetigen Anstieg rechter Gewalt in Sachsen in den vergangenen Jahren und vergleicht die bevorstehende Wahl mit den Demonstrationen von Chemnitz 2018. Damals nahmen rechte Übergriffe in ganz Sachsen zu, nachdem in der Stadt rechtsradikale Kampfsport- und Hooligan-Gruppen zusammen mit AfD, "3. Weg" und Pegida demonstriert hatten.
Die Opferberatung "Support" für Betroffene Rechter Gewalt des RAA Sachsen hat diesen Anstieg in Zahlen gepackt.
"In den Städten machen wir uns weniger Sorgen", kommentiert der Sprecher des Flüchtlingsrats. In ländlichen Kreisen wie Bautzen, Vogtlandkreis und den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen würden die Helfer die Lage aber genau im Auge behalten. Dort sei die Gewaltbereitschaft der rechtsradikalen Szene in den vergangenen Jahren besonders gewachsen.
Auch Gesine Oltmanns vom "9. November" sagt: "Ich hätte nie gedacht, dass ich in Sachsen einmal so viele antisemitische und xenophobe Äußerungen in der Öffentlichkeit höre, wie ich es gerade tue." Wenn Wahlergebnisse solchen Meinungen noch gesellschaftliche Legitimität zu verschaffen scheinen, so befürchtet die Aktivistin, könnte sich die Situation noch verschlimmern.
"Wir haben keine Glaskugel für den Tag nach der Wahl", erklärt Robert Enge vom Dresdner Büro der "Opferberatung für Opfer von Rechter Gewalt". Klar sei dennoch:
"Immer mehr Bürgerinnen und Bürger verharmlosen Ereignisse wie den Neonazi-Überfall auf Leipzig-Connewitz, die Hetzjagden von Chemnitz oder auch den Mord an Walter Lübcke", sagt Enge. Gleichzeitig würden Vertreter der AfD eine "homogene Gesellschaft" herbeibeten und damit Ängste und Vorurteile befeuern.
Dann finde rechtsradikales Handeln auf einmal Zuspruch von ganz Oben. Enge kann sich gut vorstellen, dass es deshalb zu mehr Beleidigungen und Übergriffen auf Menschen mit anderem Aussehen auf der Straße kommen wird. "Diese Entwicklung sehen wir schon jetzt", sagt er und erwartet auch eine Zunahme an Angriffen aus der rechtsradikalen Szene. "Diese Leute beobachten genau, was in der Öffentlichkeit und von Seiten der Politik möglich ist und was nicht", sagt Enge.
Aktivisten der Antifa in Dresden sehen die Sache ähnlich. "Dann schmeißen auf einmal ganz 'normale deutsche Bürger' ein Mädchen aus der S-Bahn, nur weil es ausländisches Aussehen hat", beschreibt Alex von der Undogmatischen Radikalen Antifa in Dresden eine seiner Beobachtungen.
Er sieht den wahren "Tag X" allerdings erst dann gekommen, wenn die CDU im Landtag eine Koalition mit der AfD eingehen sollte, oder sich von den Rechten als Regierung tolerieren lasse. "In so einer Situation wird die Landesregierung dazu bereit sein, gegen Gruppen wie uns und andere Initiativen vorzugehen", sagt er.
Wir haben auch bei der Polizei in Sachsen angerufen, um nach einer Einschätzung der Bedrohungslage bei und nach den Wahlen zu fragen. "Wir registrieren bei dieser Wahl, genau wie bei den Wahlen vorher einen Anstieg an Angriffen auf Politiker, Wahlplakate und Wahlstände", sagt eine Sprecherin des LKA-Sachsen. Auch Drohungen aus dem Internet hätten stark zugelegt.
Ob der 1. September nicht ein ähnlicher Auslöser für Gewalt sein könnte, wie einst in Chemnitz? "Solche Ereignisse haben nicht unbedingt etwas mit festen Terminen wie der Wahl zu tun, sondern entstehen ganz plötzlich, etwa aus einem ausufernden Streit im Internet heraus", sagt die LKA-Sprecherin.
Darauf könne die Polizei nur schwer hin planen, deswegen gebe es abgesehen von gewöhnlicher Sicherheitsberatung für Politiker keine weiteren Vorbereitungen. Zur Wahrheit gehört laut einer aktuellen Erhebung des LKA, die watson vorliegt, auch: Die meisten verzeichneten Angriffe gegen Parteieinrichtungen und -Mitglieder richten sich in Sachsen gegen die AfD.
Ein Sprecher der AfD in Sachsen erzählt die Geschichte der Bedrohung auf Anfrage von watson dementsprechend anders. "Wir lehnen Gewalt als politisches Mittel ab", sagt er und teilt dann aus: In Wahrheit seien die Gegner der "Alternativen" das Problem.
"Gerade unsere Parteimitglieder stehen immer wieder im Fokus linksextremistischer Übergriffe. Sei es, dass unsere Plakate zerstört –, Häuser und Wohnungen oder auch andersdenkende Bürger körperlich attackiert werden – oder es bei Demonstrationen zu Tätlichkeiten kommt", sagte der Sprecher.
Kurz vor der Wahl, so bestätigen die meisten antifaschistischen Aktivistinnen und Aktivisten gegenüber watson, haben sie sich auf ein mehr als schwieriges "Danach" eingestellt. Die einen organisieren Demos oder wollen spontan auf die Straße gehen, die anderen haben längerfristige Pläne. Einige fürchten sich, andere sehen keine neue Situation auf sich zukommen. Nichts ändere sich, weil die Arbeit gegen Rechts schon seit dem Aufkommen von Pegida 2015 erheblich schwieriger geworden sei.
Gesine Oltmanns wird kurz nach der Wahl eine fünfwöchige Veranstaltungsreihe auf einem Platz in Leipzig organisieren. "Bisher gab es bei solchen Events keine Übergriffe auf uns, jetzt machen mir solche Szenarien aber Sorgen", sagt sie. Immer noch stecke ihr der Satz eines Hogesa-Hooligans in den Knochen, den sie in einer Doku gehört hat: "Wir werden da sein", sagte der Schläger. Oltmanns sagt aber trotzig: "Wir auch".