Berlin-Mitte. Antoine sitzt auf seiner Tasche an einem belebten S-Bahn-Eingang. Tina hat ihre Schnauze in Antoines Hosenfalte vergraben. Besonders ihr mache die Hitze zu schaffen, sagt Antoine und streicht mit seinem Daumen über den kleinen weißen Kopf des Jack Russell Terriers. "Wir halten uns meistens im Schatten auf und gehen dann abends an den See", erzählt der 50-Jährige.
"Die Wasserbecken in der Stadt sind zu verdreckt und voller Glasscherben", sagt Antoine. Das will er Tina nicht zumuten. Am See sei das anders. Antoine und Tina gehen dann schwimmen.
Keine 50 Meter weiter sammeln junge Menschen in gelben Westen Unterschriften für Amnesty International, Touristengruppen schieben sich an Antoine und Tina vorbei, die S-Bahn hustet über den Torbogen. Antoine sitzt fast jeden Tag dort. An der immer gleichen Stelle. Seit nun fast acht Jahren.
Der Wirt des Restaurants nebenan bringt Hühnchen in zwei Plastikschalen. Antoine bedankt sich und füttert zuerst Tina mit dem weißen Fleisch. "Im Winter bringen sie mir sogar Kaffee", sagt er. Das sei aber eher die Ausnahme.
"Den meisten Menschen bin ich doch scheißegal", sagt Antoine. "Liebe Menschen sterben aus." Dabei sei die Respektlosigkeit das Schlimmste, findet er.
Es gebe viele wie ihn, sagt er. "Viele, die nicht freiwillig hier auf der Straße sind, die Gründe haben. Es kann ganz schnell gehen."
Bei Antoine ging es ganz schnell.
Er kommt in der süd-westfranzösischen Hafenstadt La Rochelle zur Welt. Nach Deutschland zieht es ihn der Liebe wegen. Antoine heiratet und baut sich eine kleine Firma auf. Er ist Elektrotechniker für Solaranlagen und Windräder, sagt er. Dann will er einen Auftrag angenommen haben, der ihn schließlich in den Ruin getrieben habe. "Ich bin auf einen Betrüger rein gefallen", schimpft Antoine. Was folgt, ist Abstieg: Schulden, Gerichtsverhandlungen und auch die Ehe geht kaputt. Die Frau geht und nimmt die zwei Kinder mit.
Antoine wird alles zu viel. Er verliert auch seine Wohnung. Elf Jahre ist das her. Die ersten fünf Jahre schläft er in einem Zelt auf Plätzen mit anderen Obdachlosen. Die Angst schläft in dieser Zeit immer mit. Die Zustände dort seien immer schlimmer geworden, sagt er. Gerade die organisierten Bettlergruppen machten ihm das Leben schwer. "Die ziehen die Leute ab" und hätten keine Skrupel. "Die klauen und vertreiben uns." In dieser Zeit, sagt Antoine, habe er mit einem Messer unterm Kopfkissen geschlafen. Als ihm wieder einmal alles geklaut wird, reicht es ihm. "Ich hatte die Schnauze voll, immer wieder alles zu verlieren." Er spart zweieinhalb Jahre und kauft sich einen alten Wohnwagen. Beim Betteln lernt er jemanden kennen, der ihm gestattet, seinen Wohnwagen außerhalb Berlins auf einem Privatgelände zu parken.
Dort fühlt sich Antoine heute sicher. Der Wohnwagen ist für ihn so etwas wie ein Versprechen, ein Neustart. "Ich baue mir mein Leben gerade wieder auf."
Zweimal die Woche geht er in eine Caritas-Einrichtung. Dort gibt es Duschen, er bekommt etwas zu essen, dort hören sie ihm zu. Antoine bekommt kein Hartz IV und ist auch nicht krankenversichert. "Dadurch habe ich keine Chance auf eine Wohnung", sagt er. Auf die Liebe irgendwie auch nicht. Nicht mehr. "Was könnte ich einer Frau auch bieten?", fragt Antoine und zuckt nur.
Trotz aller Umstände ist Antoine zufrieden, sagt er. Er mag sein Leben. "Ich bin froh, ich bin frei." Während er das sagt, fällt eine Münze. Kleingeld, das auf Kleingeld trifft, ist zu hören. Eine Frau hat im Vorbeigehen etwas hineingeworfen. Antoine bekommt Geld, die Aufmerksamkeit bekommt Antoines Hund. "Merci Madame", sagt Antoine. "Schönen Tag noch." Antoines Freiheit beginnt mit der Münze in seinem Plastikbecher – und irgendwie endet sie auch dort.
Bis zu seinem Platz in Berlin-Mitte braucht Antoine eineinhalb Stunden. Davon läuft er eine Stunde zu Fuß, das letzte Stück fährt er S-Bahn. Dann sitzt er solange, bis er Geld für Essen, Wasser und Tabak zusammen hat. Alkohol trinkt Antoine nicht. An sehr guten Tagen hat er bis zu 20 Euro in seinem Plastikbecher. An schlechten nichts. "Die Menschen geben immer weniger", sagt er. Abends geht es dann wieder zurück zu seinem Wohnwagen.
Dort liest Antoine am liebsten Bücher. Alles außer Krimis, sagt er. Einen Fernseher hat er nicht. "Das verblödet die Menschen." In seinen Geschichten gehe es um Menschen wie ihn, sagt er. Ihm sei es wichtig, dass andere sich ein Bild machen können, was tatsächlich auf der Straße ablaufe. "Zu erzählen habe ich nach all den Jahren auf der Straße ja genug."
Und Antoine hat Pläne. Er will raus aus Berlin. Im nächsten Sommer will sich ein Freund ein Auto besorgen, dann wollen sie den Wohnwagen dranhängen und einfach losfahren – vielleicht nach Kroatien oder Griechenland.