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Hitziger Tag im Parlament: Impfpflichtdebatte beginnt mit viel Streit – nicht nur inhaltlich

Aktuell,17.03.2022 Berlin,Zuschauer und Gaeste schauen von aussen auf das Plenum bei der Videoansprache des Praesidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj im Vorfeld der 21. Sitzung des Deutschen Bunde ...
Der Andrang an diesem Sitzungstag im Bundestag war groß.Bild: Flashpic / Jens Krick
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Hitziger Tag im Parlament: Impfpflichtdebatte beginnt mit viel Streit – nicht nur inhaltlich

17.03.2022, 19:27
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Mit festem Schritt läuft Emilia Fester (Grüne) an diesem Donnerstag zum Rednerinnenpult im Bundestag. Sie nimmt ihre schwarze FFP2-Maske ab, bedankt sich bei der Vize-Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne), die ihr das Wort erteilt hat. Dann legt Fester los: "Sehr geehrte Kolleg:innen und die AfD-Fraktion, als die Pandemie begonnen hat, war ich 21 Jahre alt. Wissen Sie noch, was Sie gemacht haben, als sie 21 waren?"

Fester listet auf, was sie alles nicht machen konnte: Studieren in Präsenz, Auslandserfahrungen, Feiern, Knutschen. Kurz: Ihr junges Leben genießen. Wie viele aus ihrer Generation. Der Grund dafür: Corona und all die Einschränkungen, die dieses Virus in den vergangenen Jahren mit sich gebracht hat.

An diesem Tag wird im Bundestag über die Gesetzentwürfe und Anträge bezüglich der allgemeinen Impfpflicht debattiert. Fester unterstützt den Antrag, der die Impfpflicht ab 18 Jahren fordert.

Emilia Fester, Buendnis 90/Die Gruenen, aufgenommen bei einer Rede zur Thema Impfplicht gegen SARS-CoV-2 im Deutschen Bundestag in Berlin, 17.03.2022.
Emilia Fester (Grüne) spricht die AfD-Fraktion direkt an.Bild: PHOTOTHEK / Felix Zahn

An die Fraktion der AfD gewandt, sagt Fester:

"Das mag Ihnen lächerlich vorkommen, aber wissen Sie, was wirklich lächerlich ist? Dass Sie und ihre Freund:innen der Freiheit sich einfach hätten impfen lassen können, als wir alle diesen einfachen Schritt gegangen sind. Dann wäre ich jetzt wieder frei. Dann wären wir alle wieder frei oder zumindest freier."

Auf Weltkrise folgt Weltkrise

Die Diskussion über die Impfpflicht hätte so mancher Parlamentarier lieber zu einem anderen Zeitpunkt gesehen. Denn, wie in der Tagesordnung vorgesehen, schließt sich die Impfpflicht-Debatte direkt an die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der per Video zugeschaltet war.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht auf einer Videoleinwand im Bundestag und bekommt Applaus von der Bundesregierung.
Der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj.Bild: dpa / Michael Kappeler

In seiner Rede fordert Selenskyj, dass Deutschland aufhört, russisches Öl und Gas zu importieren. Er spricht in seiner Rede von einer "Art neuer Mauer" – einer Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit – die durch die russische Invasion entstanden ist. Er zitiert den ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan mit seinem berühmten Zitat: "Mr. Gorbachev, tear down this Wall" und spricht Bundeskanzler Olaf Scholz dann direkt an: "Herr Scholz, reißen Sie diese Mauer nieder".

Selenskyj endet und die Parlamentarier stehen auf und klatschen. Alle, selbst die der AfD-Fraktion, die sonst durch ihre Nähe zum russischen Regime von Wladimir Putin auffallen.

Im Anschluss wird darüber diskutiert, ob die Tagesordnung geändert werden sollte – die Unionsfraktion hatte im Vorfeld einen entsprechenden Antrag eingereicht. Statt der Debatte über die Impfpflicht solle der Bundestag über die Rede Selenskyjs und die Lage in der Ukraine debattieren. Der Antrag wird abgelehnt – unter Protest der Union.

Linken-Politiker Jan Korte hat dafür wenig Verständnis. "Das ist lächerlich", sagt er. Seine Fraktion unterstütze den Antrag der Union. "Ihnen bricht kein Zacken aus der Krone, wenn wir diese Debatte führen", sagt er in Richtung der Regierungsparteien.

Und trotzdem widmet sich das Parlament im Anschluss den Gesetzentwürfen und Anträgen zur Impfpflicht zu. Die Reihen des Plenarsaals, die bei der Rede des Präsidenten der Ukraine proppenvoll waren, leeren sich. Ebenso die Besuchertribünen.

Impfpflicht, Impfvorsorge oder nichts von alledem?

Drei Gesetzentwürfe und zwei weitere Anträge zur Impfpflicht gibt es insgesamt. Erarbeitet wurden die meisten von ihnen von fraktionsübergreifenden Gruppen. Nur die CDU/CSU-Fraktion hat einen eigenen Gesetzentwurf erarbeitet, die Fraktion der AfD einen eigenen Antrag.

Die Anträge und Gesetzentwürfe sprechen sich für diverse Alternativen aus:

  • Eine Impfpflicht ab 18 Jahren
  • Pflichtberatung und Impfpflicht ab 50 Jahren
  • Impfpflicht in Raten (CDU/CSU-Fraktion)
  • Keine Impfpflicht
  • Keine Impfpflicht und Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (AfD-Fraktion)

Im Parlament kommt die Sorge auf, dass sich die Abgeordneten auf keine Lösung werden einigen können: Da sie bei dieser Entscheidung nur ihrem Gewissen verpflichtet sind und der Fraktionszwang aufgehoben ist, sind Mehrheiten weniger einfach zu erreichen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) – ebenfalls Verfechter der Impfpflicht ab 18 Jahren – fragt: "Tun wir alles dafür, dieses Land vor großen Freiheitseinschränkungen zu schützen?" Er wirbt dafür, nicht nur auf die Omikron-Variante zu blicken, da wieder gefährlichere Mutationen folgen könnten.

Für seine Rede erntet er aus den Reihen der AfD-Fraktion mehrere Zurufe, die sich anhören wie "Arschloch". Die Vize-Bundestagspräsidentin Petra Pau (Linke) wird am Ende der Sitzung dafür werben, sich im Plenarsaal an die Gebote des Anstandes zu halten. Sowohl im verbalen als auch im nonverbalen Benehmen.

Es sind Momente wie diese, die zeigen, wie emotional es an diesem Tag im Bundestag zugeht.

Immer wieder kommt die Unionsfraktion in ihren Redebeiträgen, in denen sie für den von ihnen eingebrachten Gesetzentwurf mit einem "Impfmechanismus" werben, auf die Rede Selenskyjs zu sprechen. Und auf die Maskenpflicht, die am kommenden Montag fallen soll.

Tino Sorge (CDU) kritisiert in seiner Rede die Bundesregierung. Man hätte direkt einen Antrag vorlegen sollen, wenn die Sorge so groß sei, keine Lösung zu finden. Und er wirbt für den Antrag der CDU/CSU, der mehrheitsfähig sein könnte. Die Fraktion fasst 197 Abgeordnete. Der Impfmechanismus, der greifen soll, wenn sich die Coronalage verschärfe, sowie die Einführung eines Impfregisters seien ein Kompromiss, stellt Sorge klar.

Tino Sorge in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Berlin, 17.03.2022
CDU-Politiker Tino Sorge.Bild: Geisler-Fotopress / Sebastian Gabsch/Geisler-Fotopre

"Ich habe hier heute viel medizinischen Unsinn gehört", sagt Herbert Wollmann (SPD). Der Arzt ist einer der Verfechter des Vorschlages der Impfpflicht ab 50 Jahre. Wollmann stellt klar, dass alle, die noch immer ungeimpft sind, verantwortungslos seien.

Wie Emilia Fester spricht auch er zum ersten Mal im Bundestag. Vize-Präsidentin Göring-Eckardt ist gnädig mit ihm, obwohl er – wie fast alle Redenden an diesem Tag – seine Zeit überzieht. "Auch wenn Sie zum ersten Mal hier sprechen, muss ich Sie an Ihre Redezeit erinnern", sagt Göring-Eckardt. "Nur noch zehn Sekunden", sagt Wollmann. Sie nickt. Die zehn Sekunden legt Wollmann allerdings großzügig aus. Göring-Eckardt räuspert sich. Mehrmals. Wollmann endet. Göring-Eckardt lächelt.

Ein weiterer Verfechter des Entwurfs für die altersbezogene Impfpflicht ist der Obmann der FDP Bundestagsfraktion im Gesundheitsausschuss, Andrew Ullmann.

Gegenüber watson erklärt Ullmann:

"Die Debatte hat über alle Gruppen hinweg eins deutlich gemacht: Alle vernünftigen und sachlichen Vorschläge setzen auf Aufklärung, Impfung und den Schutz vulnerabler Gruppen. In unserem Gesetzentwurf kommt das alles zusammen. Deswegen ist unser Gesetzentwurf die Brücke, über die wir in einen sicheren und beherrschbaren Herbst und Winter gehen können."

Göring-Eckardt und Pau leiten in dieser Woche alleine die Sitzungen der Parlamentarier. Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), wie auch der Vize Wolfgang Kubicki (FDP) befinden sich wegen Corona in Quarantäne.

Die Gruppe um Kubicki spricht sich gegen die Einführung einer Impfpflicht aus. Statt des FDP-Politikers wirbt an diesem Tag unter anderem der Linken-Politiker Gregor Gysi für diesen Antrag. Er wirbt dafür, Menschen weiter niedrigschwellige Angebote und eine Aufklärung in verschiedenen Sprachen zu bieten. Eine Pflicht lehne er ab, weil er nicht daran glaube, dass diese am Ende tatsächlich kontrolliert und umgesetzt werden könnte.

Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Dagmar Schmidt, fasst die Impfdebatte gegenüber watson folgendermaßen zusammen:

"Die Debatte heute hat gezeigt: Es gibt eine Mehrheit für eine Impfpflicht. Jetzt geht es in den parlamentarischen Verfahren darum, eine gemeinsame Ausgestaltung zu finden."

Da jede einzelne Impfung zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beitrage, gehe es nun darum, den Wettlauf gegen das Virus zu gewinnen und mit der Grundimmunisierung vor die nächste Welle zu kommen, findet Schmidt. So könnten erneute freiheitseinschränkende Maßnahmen vermieden werden. Schmidt fordert insbesondere die CDU/CSU-Fraktion auf, die Forderungen von Wirtschaft und Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen. Und die Forderung der Ministerpräsidenten.

Als Vertreter der Ministerpräsidenten spricht an diesem Tag der Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) im Bundestag. Er ist Unterstützer des Gesetzentwurfes, der eine Impfpflicht ab 18 Jahren anstrebt. Und er stellt klar, dass er im Namen aller Ministerpräsidenten dafür wirbt, diesem Gesetzentwurf eine Mehrheit zu verschaffen.

Ob und wann die Impfpflicht kommen wird, bleibt also offen. Klar ist, dass die Anträge nun in den Ausschüssen weiter besprochen werden, ehe der Bundestag abstimmen wird.

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