Tag für Tag brechen Menschen von Libyen aus auf Richtung Europa – in der Hoffnung auf ein neues Leben fernab des Bürgerkrieges und dem Leid in ihrem Heimatland. Rund 100.000 entscheiden sich jährlich für den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Für viele endet dieser Weg tödlich. Seit dem Jahr 2014 sollen rund 21.800 Menschen während ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben oder verschollen sein. Die Zahlen sind das Ergebnis einer Erhebung des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR).
Am 18. Juni 2017 geraten etwa 500 Flüchtende knapp hinter der libyschen Hoheitsgewässer in Seenot. Die italienische Küstenwache ruft daraufhin die Crew des deutschen Rettungsschiffes Iuventa der Organisation "Jugend rettet" an und bittet um Unterstützung. Im Laufe des Tages holt die Crew aus Ärzten, Übersetzern und anderen Helfern die Geflüchteten aus insgesamt drei Holzbooten und rettet damit ihr Leben.
Knapp fünf Jahre später stehen die Beteiligten nun am 21. Mai 2022 in der italienischen Stadt Trapani vor Gericht. Im schlimmsten Fall drohen ihnen bis zu 20 Jahre Haft
Der Grund dafür: Filmaufnahmen, die die Ereignisse vom 18. Juni 2017 in ein anderes Licht stellen – jedenfalls aus Sicht der italienischen Staatsanwaltschaft. Neben der Iuventa und einem weiteren Rettungsschiff von Save the Children war an diesem Tag auch ein Schiff der libyschen Küstenwache vor Ort. Ein Bild des chaotischen Rettungsgeschehens zeigt, wie die Seenotretter ein leeres Holzboot transportieren.
Wie es die italienische Staatsanwaltschaft später darstellen wird, haben die Seenotretter das Boot zurück nach Libyen transportiert – und somit den Schleppern geholfen.
Eine These, die offiziell nie belegt werden konnte.
Trotzdem wird die Iuventa wenige Tage später im Hafen von Sizilien beschlagnahmt. Der Tatvorwurf gegen zehn Crew-Mitglieder der Iuventa und insgesamt 21 weitere Besatzungsmitglieder der Organisationen Ärzte ohne Grenzen und Save the Children: "Verdacht der Beihilfe zur illegalen Migration."
Es ist das erste Mal, dass deutsche Seenotretter wegen des Vorwurfs der Schlepperei in Italien auf der Anklagebank sitzen. Viele von ihnen haben bis zuletzt nicht daran geglaubt, dass der Prozess wirklich stattfinden wird. So wie Kathrin Schmidt, Einsatzleiterin der damaligen Iuventa-Crew, im Gespräch mit watson sagt:
Dass die italienische Staatsanwaltschaft trotzdem klagt, sei ein Zeichen dafür, dass es nicht ausschließlich ein juristischer Prozess, sondern maßgeblich ein politischer ist. Und: "Die Tatsache, dass die Beweisschrift fast 29.000 Seiten umfasst, zeigt: Eigentlich hat die Staatsanwaltschaft nicht wirklich etwas Handfestes gegen uns in der Hand."
Kathrin Schmidt ist davon überzeugt: Sie und ihre Crew-Mitglieder hätten nichts Falsches gemacht, als sie die Menschen in Seenot retteten. Und mit dieser Ansicht ist sie nicht alleine – zahlreiche NGOs setzen sich für die Angeklagten ein und fordern die Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Franziska Vilmar, Expertin für Asylpolitik von Amnesty International in Deutschland etwa stellt die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung in den Vordergrund und fordert das Ende der Kriminalisierung von Seenotrettung.
Die Rechtslage für Schiffbrüchige regelt das Seerechtsübereinkommen der UN von 1982. Darin steht geschrieben, dass Schiffbrüchige auf Hoher See gerettet werden müssen, wenn man Zeuge dieser Notlage wird und die Möglichkeit dazu besteht. Das betrifft sowohl staatliche als auch private Schiffe.
Der Haken an der Sache: Die Länder sind nur unter bestimmen Umständen dazu verpflichtet, die entsprechenden Boote auch am Hafen anlaufen zu lassen. Zum Beispiel dann, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben für die Menschen an Bord besteht. In der Praxis bedeutet das, dass viele Häfen das Anlegen von Schiffen verweigern, auf denen sich Geflüchtete befinden.
Iuventa-Einsatzleiterin Kathrin Schmidt kritisiert dieses Vorgehen: "Ich denke, den europäischen Staaten ist mittlerweile fast jedes Mittel recht, um Flüchtende aus weniger privilegierten Ländern an ihrer Einreise zu hindern." Die Abwesenheit von legalen Fluchtrouten zwinge viele schutzsuchende Menschen aus Krisengebieten dazu, andere Wege zu suchen.
Die führten oft über das Mittelmeer – in den meisten Fällen mit der Hilfe von Schleppernetzwerken. Schmidt sagt:
Seenotrettung ist bereits seit 2015 zunehmend zu einem zivilen Engagement geworden. Die Rufe nach einer staatlichen Lösung auf dem Mittelmeer werden immer lauter. Bisher erschwert die Politik die Arbeit der Seenotretter. Mittelmeerstaaten wie Malta oder Italien weigern sich immer wieder, die Geflüchteten an Land zu lassen. Auch die Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer werden weniger, weil die Regierung sie festsetzt oder sie ihre Arbeit wegen politischer Einschränkungen nicht mehr ausüben können.
Im Jahr 2020 waren noch acht Schiffe im Einsatz – zwischenzeitlich war davon nur noch eines übrig, die Aita Mati von der spanischen Seenotrettungsorganisation "Salvamento Marítimo Humanitario". Mittlerweile sind wieder mehrere Rettungsorganisationen im Mittelmeer aktiv – darunter auch die deutschen Rettungsschiffe "Sea-Watch 4" und "Sea-Eye 4".
Der nun anstehende Prozess gegen die Seenotretter der Iuventa stellt den Höhepunkt der italienischen Bemühungen gegen die Seenotrettung dar. Eine aufreibende Zeit für diejenigen, die vor fünf Jahren Menschenleben auf dem Mittelmeer gerettet haben. Kathrin Schmidt sagt im Gespräch mit watson:
Die gewaltsame Unterdrückung, von der die Seenotretterin spricht, beansprucht sie aber weniger für sich, sondern vor allem für die Schutzsuchenden auf dem Meer:
In Deutschland gilt illegale Einreise als Straftatbestand und wird mit einer Haftstrafe von einem Jahr oder einer Geldstrafe gefahndet, Schlepper werden meistens zu mehreren Monaten im Gefängnis verurteilt.
Eine Haftstrafe sei nicht das Schlimmste, was Flüchtenden auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft passieren kann. Schmidt berichtet von Ereignissen, bei denen die libysche Küstenwache auf die Menschen in den Booten und im Wasser geschossen habe. Oder von Geflüchteten, die gewaltvoll und menschenverachtend wieder in die Türkei zurückgeschickt werden – ohne Pass und Besitztümer.
Auch entlang der Balkanroute würden Menschen systematisch zurückgepusht – also zurück in ihr Herkunftsland gedrängt. Das Fazit der Seenotretterin: "Europa verstößt jeden Tag gegen Menschenrechte."
Auch Menschenrechtsorganisationen kritisieren zunehmend die Entwicklung der Asylpolitik in Europa. Die Tatsache, dass die Bemühungen des Grenzschutzes zunehmend darauf ausgelegt seien, Schleusernetzwerke zu unterbinden und irreguläre Migration zu verhindern, erschwere die Seenotrettung, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von Amnesty International und Pro Asyl.
Sie fordern stattdessen ein europäisches Seenotrettungsprogramm und legale Fluchtwege. Eine Forderung, die auch Vertreter und Vertreterinnen der Politik immer wieder Formulieren. Ein prominentes Beispiel: Grünen-Politiker Erik Marquardt.
Auch die Iuventa-Einsatzleiterin sieht Nachholbedarf in der europäischen Asylpolitik. Es gehe jetzt vor allem darum, die legale Einreise für alle Menschen zu ermöglichen. Die Seenotrettung sei nur Symptombekämpfung im Kontext eines globalen Machtgefälles. "Ich fordere, dass es keine Notwendigkeit mehr für die zivile Seenotrettung gibt", sagt sie.
Mit der Iuventa war die Einsatzleiterin sechs Mal Teil der privaten Rettungsaktionen im Mittelmeer. Der Prozess wird auch über die Zukunft des Rettungsschiffes entscheiden. Schmidt sagt: "Mit der Iuventa nach fünf Jahren Stilllegung wieder in See stechen? Das wäre schon geil!"