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Sanktionen gegen Russland: Wann geht Putin das Geld aus?

DIESES FOTO WIRD VON DER RUSSISCHEN STAATSAGENTUR TASS ZUR VERFÜGUNG GESTELLT. [MOSCOW, RUSSIA - MARCH 30, 2022: Russia's President Vladimir Putin meets with Republic of Ingushetia Head Makhmud-A ...
Noch immer sprudeln Einnahmen vor allem aus Gas- und Ölexporten in die Kassen Putins.Bild: Russian President Press Office / Mikhail Klimentyev
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Geht Putin bald das Geld aus? Warum die Bewertung der Russland-Sanktionen so kompliziert ist

21.07.2022, 20:01
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Im Februar hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet. Kurz darauf hat die Europäische Union gemeinsam mit internationalen Partnern wie den USA, Japan und Australien mit scharfen Sanktionen reagiert.

Das Recherchezentrum "Correctiv" hält fest: Seit Kriegsausbruch hat die EU rund 830 Einzelsanktionen gegen Russland verhängt. Sie richten sich gegen Politiker, Oligarchen, Militär, Unternehmen sowie Medien. Russland ist aus dem internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen, sieht sich mit eingeschränktem Handel- und Technologieaustausch sowie einem partiellen Energieembargo konfrontiert.

Seit bald einem halben Jahr steckt Russland in der Isolation. Das wirft die Frage auf: Wirken die Sanktionen?

Geht Putin und seinen Anhängern bald das Geld aus? Und der Bevölkerung die Geduld, unter diesen Bedingungen zu leben?

Die Meinungen der Wirtschaftsexperten spalten sich. Noch immer sprudeln Staatseinnahmen vor allem aus Gas- und Ölexporten in die Kassen Putins.

Gespaltene Meinungen über Wirksamkeit

Die Sanktionen erfüllen nicht ihren Zweck, weil sie weder das Verhalten Russlands geändert noch eine Volksrevolution ausgelöst haben, meint Ivan Timofeev, einer der führenden Experten für Sanktionspolitik. Sein Artikel erschien Anfang April im Kommersant, einer russischen Tageszeitung, die dem Oligarchen Alischer Usmanow gehört.

Janis Kluge sieht das anders. Der große Crash sei ausgeblieben, aber die eigentliche Krise stehe Russland noch bevor, erklärt der Wirtschaftsexperte am "Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit".

Bisher trafen die Sanktionen nur einzelne Bereiche der Wirtschaft mit großer Wucht. Nach und nach greifen die Effekte auf immer mehr Sektoren über, prognostiziert Kluge.

Die Autoindustrie steht aufgrund der Sanktionen größtenteils still in Russland.
Die Autoindustrie steht aufgrund der Sanktionen größtenteils still in Russland.Bild: IMAGO / ITAR-TASS / Pyotr Kovalev

Weiter heißt es in seiner Analyse, dass die Produktion überall dort eingebrochen sei, wo internationale Unternehmen eine zentrale Rolle spielen. So steht die Autoindustrie, die zahlreiche Menschen im Land beschäftigt, größtenteils still.

Dazu kommt der Mangel an Teilen, Dienstleistern und Maschinen in fast allen Bereichen, der sich laut Klug deutlich verschärfen werde. Auch seien die Reallöhne durch Kurzarbeit und Produktionsstillstand deutlich gefallen, und mit ihnen sinkt die Konsumfreude. Kluge betont, zum Jahresende rechnen die meisten Ökonomen mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von über 10 Prozent, worauf eine langjährige Stagnation folgen soll.

Aber: Auch dann werde es noch zwei bis drei Jahre dauern, bis die Maßnahmen des Westens sich auf die Finanzkraft Russlands durchschlagen.

Wie lange kann Putin die Auswirkungen der Sanktionen gegen sein Land abfedern?
Wie lange kann Putin die Auswirkungen der Sanktionen gegen sein Land abfedern?Bild: IMAGO / SNA / Valeriy Sharifulin

Putins Macht sei daher durch die Sanktionen nicht unmittelbar gefährdet. Daher sei der russische Präsident auch nicht darauf angewiesen, außenpolitische Kompromisse einzugehen, um die Wirtschaft seines Landes zu sichern, folgert Kluge.

Russische Reaktion: Anpassen statt Aufgeben

Auch der russische Wirtschaftsexperte Ruslan Grinberg prognostiziert gegenüber dem "Mitteldeutschen Rundfunk", dass es eine stetige Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation geben werde. Der Leiter des Wirtschaftsinstituts an der Russischen Akademie der Wissenschaft (RAN) in Moskau befürchtet, seinem Land stehe eine "Primitivisierung der Wirtschaft" bevor.

Der russische Wirtschaftsexperte Ruslan Grinberg glaubt nicht, dass die Sanktionen die erwünschten Wirkungen erzielen werden.
Der russische Wirtschaftsexperte Ruslan Grinberg glaubt nicht, dass die Sanktionen die erwünschten Wirkungen erzielen werden. Bild: IMAGO / ITAR-TASS / Stanislav Krasilnikov

Das Absinken des Lebensstandards werde die Armen noch ärmer machen, aber was bliebe, sei der "Stolz auf das Land" und die Einstellung: "Hauptsache, wir haben es ihnen alle gezeigt!", erklärt Grinberg die Mentalität seiner Landsleute. Der Wirtschaftsexperte stuft die Möglichkeit von Massenprotesten aufgrund von Sanktionen als sehr niedrig ein. Die Russen würden sich der wirtschaftlichen Lage anpassen – wie sie es schon zu Sowjetzeiten getan haben.

Grinberg, der schon den Staatspräsidenten der ehemaligen Sowjetunion, Michail Gorbatschow, beraten hat, verrät Russlands Schwachstelle: Es komme darauf an, inwieweit die USA und Europa die russischen Energielieferungen nach Asien einschränken oder unterbrechen können.

EU zeigt sich optimistisch

Der Europäische Rat hält fest, dass es noch lange dauern werde, bis man die Auswirkungen einiger der verhängten Sanktionen auf Russland sehe, dennoch sprechen aktuelle Einschätzungen der Weltbank für Erfolge.

Laut des Berichtes der Weltbank schrumpft die russische Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt wird voraussichtlich um über 11 Prozent sinken. Das wäre der größte BIP-Einbruch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Zudem werde der russische Waren- und Dienstleistungshandel im Jahr 2022 deutlich zurückgehen. Schätzungen zufolge wird Russlands Inflationsrate im Jahr 2022 stark ansteigen – auf bis zu 22 Prozent. Aber wird das Russland stoppen, den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Sanktionen könnten Russlands Jugend beeinflussen

Die Antwort auf diese Frage, ob die Sanktionen wirken, hängt von der Erwartungshaltung ab. Fakt ist, kurzfristig konnten die Sanktionen den Krieg in der Ukraine nicht aufhalten. Dafür sei die Situation schon zu weit eskaliert, erklärte Vasily Astrov gegenüber watson bereits im März.

Der Ökonom vom "Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche" hat darauf hingewiesen, dass sich Präsident Putin bisher fast nie äußerem Druck gebeugt habe. Langfristig gesehen werden die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen Russland vor großen Herausforderungen stellen.

Junge Menschen vor einer Filiale von Lush.
Junge Menschen vor einer Filiale von Lush.Bild: IMAGO / SNA / Evgeny Biyatov

Glaubt man dem Wirtschaftsexperten Grinberg, passt sich das russische Volk an. Doch ist die Gesellschaft noch die gleiche wie zu Sowjetzeiten? Steht die Jugend hinter Putin? Viele junge Russinnen und Russen haben bereits die Flucht aus ihrem Land ergriffen.

Langfristige Sanktionen könnten die Zustimmung – vor allem bei den jungen Menschen – für einen autoritären Präsidenten wie Putin verringern. Zudem haben die beispiellosen Sanktionen gegen Russland einen Nebeneffekt: Sie dienen als Abschreckung für andere Länder, solche Angriffskriege zu unterlassen. Als Beispiel wäre China und Taiwan genannt.

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