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Vor Ort in der Ukraine

Krieg in der Ukraine: Arbeiten, wo Bomben fallen – der Mensch wir erfinderisch

Shelling In Mykolaiv, Ukraine Local residents and citizens are seen looking at the damages caused by the blast of three artillery shells, in the Korabel nyi district, south of Mykolaiv, Ukraine, 2022- ...
Die südukrainische Stadt Mykolajiw steht ständig unter Beschuss. Einwohner retten, was noch zu retten ist. Bild: www.imago-images.de / imago images
Vor Ort in der Ukraine

Leben im Krieg: Der Mensch wird erfinderisch

Wie soll man seinem Alltag nachgehen, wenn das Land vom Krieg beherrscht wird? Arbeiten und helfen, wo Bomben fallen – drei Menschen erzählen von ihrem Leben im Ausnahmezustand.
20.06.2022, 19:0523.06.2022, 16:37
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Wenige Stunden, nachdem eine Bombe in der Stadt eingeschlagen war, steht Alex vor einem Café und grinst.

Es ist Mai – und die Sonne brennt, während der Mann mit Glatze und Vollbart über die Straße schaut. Eine schwarze Sonnenbrille sitzt auf der Nase, über sein dunkelblaues T-Shirt zieht sich ein grün-florales Muster. Eine große, dunkelbraune Ledertasche hängt über seiner Schulter.

Alex lebt in Mykolajiw. Die Stadt im Süden der Ukraine steht seit Beginn des russischen Angriffskrieges unter Beschuss. Und Alex sitzt auf der Terrasse des Cafés und schlürft seinen Kaffee. Er telefoniert, schreibt Nachrichten auf den Messengern Signal und Telegram.

Helfer in der Ukraine
Bei Sonnenschein im Café der umkämpften Stadt Mykolajiw: die Helfer Patrick Münz (v.l.), Alex Vasilyev, Okan Baskonyali und watson-Redakteurin Joana Rettig.Bild: watson / Joana Rettig

Der Mann ist 32 Jahre alt. Seit der Krieg nach Mykolajiw kam, kann er nicht mehr arbeiten. Alex war in der Getreidebranche tätig. Seine Frau und sein Sohn flohen nach Spanien. Von dort aus muss es aber nach Deutschland gehen, erzählt er. "Spanien ist einfach zu teuer." Für Geflüchtete gibt es in Spanien offenbar weniger Unterstützung als in Deutschland. Alex selbst muss bleiben. Darf das Land nicht verlassen.

Keine Arbeit, keine Familie. Nur Freunde und die Hoffnung, dass das Land irgendwann vielleicht wieder in Frieden leben wird.

Doch Alex braucht Beschäftigung, erzählt er. Er will sich nützlich machen. Jetzt kümmert er sich also darum, dass Hilfsgüter geliefert werden. Dabei fungiert er sozusagen als Fixer: Er hilft Menschen, die helfen. Knüpft selbst überall Kontakte. Innerhalb der Stadt, aber auch nach außen. Helfenden aus dem Ausland steht er zur Seite, zeigt ihnen die Stadt, erklärt, wo man was und wie lange einkaufen kann. Er weiß genau bescheid, wann und wo es das in der Ukraine so knappe Benzin oder Diesel gibt. Er kümmert sich um Unterkünfte.

Die Straße vor dem Café wirkt friedlich. Die Menschen schlendern im Sonnenschein, lachen. Ein Mädchen und ein Junge rennen lachend und schreiend an der Café-Terrasse vorbei.

Als Alex die deutschen Helfer von den Organisationen "STELP" und "Leave no one Behind" zu einem Lagerhaus fährt, erzählt er von seinem Sohn. Er zeigt ein Bild seiner Ehefrau, die mit einem weißen Sommerkleid in die Kamera strahlt. Das Bild ist aus dem Jahr 2021.

In der Stadt finden sich an fast jeder Straßenkreuzung große Plakate, auf denen ein Ork zu sehen ist, der Militärkleidung trägt, einen Schutzhelm. Auf seiner Brust ist ein weißes Z aufgemalt. Die Ukrainer haben bereits vor Monaten damit begonnen, das russische Militär als "Orks" zu bezeichnen.

"Russischer Soldat" steht auf dem Plakat mit dem Ork darauf in Mykolajiw. Und darunter: "Rumtreiber, Vergewaltiger und Mörder."
"Russischer Soldat" steht auf dem Plakat mit dem Ork darauf in Mykolajiw. Und darunter: "Rumtreiber, Vergewaltiger und Mörder." Bild: watson / Joana Rettig

"Ich weiß gar nicht, wie ich weitermachen soll", erzählt Alex, während er mit seinem schwarzen SUV durch die teilweise zerstörten Straßen fährt. "Mein Erspartes ist langsam weg – ich habe sogar versucht, mein Auto zu verkaufen. Aber die Menschen hier haben ja alle kein Geld mehr."

"Bahnhofsmanagement" – ein neuer Anfang

Kein Job mehr, kein Geld mehr.

Auch Dimitri aus Dnipro steht wegen des Krieges vor dem Nichts. Am Hauptbahnhof der 970.000-Einwohnerstadt im Osten der Ukraine spricht er fremde Menschen an. Er lächelt viel, spricht bruchstückhaft Englisch. Hier auf dem Platz, der an diesem sonnigen Tag besonders gut besucht ist, wo sich Menschen an Dönerbuden anstellen, während Militärs mit Seesäcken auf die Abfahrt ihres Zuges warten – hier hat sich Dimitri eine neue Aufgabe gesucht. Er brauchte einen Neuanfang, sagt er. Was er jetzt macht, nennt er "Bahnhofsmanagement".

Heißt: Er steht auf dem Platz vor dem Eingang der Bahnhofshalle und wartet auf Ankommende. Auf verlorene Ankommende. Ihnen hilft er bei so gut wie allem, was sie brauchen: Taxifahrten, Geldautomaten, den Schalter zum Geld Wechseln, Fragen beantworten, Wege zeigen.

Dimitri trägt ein salbeigrünes Shirt. Enge Jeans, Sonnenbrille. Feine Falten an seiner Schläfe zeigen, dass er in seinem Leben schon sehr viel gelacht hat. Er ist 43 Jahre alt, die Haare auf seinem Kopf lichten sich, grau sind sie bereits.

Bahnhofsmanagement also. "Das ist jetzt mein Job", sagt er. Wie bei Alex aus Mykolajiw hat auch die Firma, bei der Dimitri arbeitete, geschlossen. Und jetzt, sagt er, hilft er Menschen, "sich zurechtzufinden". Damit verdiene er sein Geld.

Zahlen MUSS man aber nicht, erklärt er. "Aber wenn du möchtest, kannst du mir etwas geben." 200 Griwna sind für Dimitri viel Geld. Umgerechnet sind das etwa 6 Euro.

Der Mensch wird erfinderisch und genügsam, wenn der Krieg das Land in eine Wirtschaftskrise stürzt.

Netze für das Militär

Erfinderisch wurde auch Sascha.

Sie und ihre zwei Kinder sind in Mykolajiw geblieben. Auch, als die Bombardements immer mehr, immer heftiger wurden. Zu Beginn gingen die eigentliche Lehrerin und ihre Familie in eine Schulsporthalle – sie wurde als Unterkunft für die Einwohner genutzt, als russische Artillerie Ende Februar die Stadt überraschte.

Saschas Mutter war auch dabei. "Wir saßen also in der Turnhalle und hörten die Bomben", erzählt Sascha. "Plötzlich begann meine Mutter, zu stricken." Sie habe erst einmal lachen müssen, erzählt die Frau mit den langen dunkelbraunen Haaren. Natürlich habe sie gefragt, warum ihre Mutter das tut. "Sie meinte, sie könnte nicht einfach so dasitzen und nichts tun, also strickte sie."

Und Sascha machte mit.

"Ich dachte mir aber, vielleicht sollten wir daraus lieber etwas Nützliches machen." Und so begannen Sascha und ihre Mutter, alte Kleider zusammenzusuchen und daraus Tarnnetze für das Militär zu knüpfen. "Die meisten Frauen und Kinder in der Halle haben dann mit geholfen."

Viele seien sogar zwischenzeitlich nach Hause gegangen und hätten nach weiterer Kleidung gesucht, die sie für die Netze spenden konnten.

Auch Sascha steht in der Sonne, während sie erzählt. Das Wetter meint es im Mai gut mit den Menschen in der Ukraine. Doch die junge Frau steht nicht etwa vor einem Café oder einem gut besuchten Bahnhof. Hier ist die Umgebung verwaist. Der Parkplatz, auf dem sie steht, ist voller Schlaglöcher. Er befindet sich direkt vor dem Hof einer Organisation, die in Zusammenarbeit mit dem Militär Menschen aus umkämpften und sogar besetzten Gebieten evakuiert.

Ein zerstörtes Hotel in der Innenstadt von Mykolajiw. Als die Rakete einschlug, schliefen noch Gäste in dem Haus.
Ein zerstörtes Hotel in der Innenstadt von Mykolajiw. Als die Rakete einschlug, schliefen noch Gäste in dem Haus.Bild: watson / Joana Rettig

Wo genau sich die Basis dieser Gruppe aufhält, darf nicht veröffentlicht werden. Doch eines ist klar: In diesem Bereich von Mykolajiw ist es nicht ganz ungefährlich.

Saschas Mann kämpft an der Front. Und als sie anfängt, von ihm zu sprechen, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Immer wieder stockt sie. Es wirkt, als bliebe ihr die Luft weg. "Er war schon 2014 im Donbass", erzählt sie. "Ich kenne dieses Gefühl also schon."

Dieses Gefühl von Hilflosigkeit.

Die tägliche Angst vor grauenvollen Nachrichten. "Ich kann hier nicht weggehen. Meine Mutter bleibt hier, mein Mann kämpft hier." Sie beginnt zu zittern, Tränen laufen ihre Wangen herunter. "Wenn ihm was passiert, muss ich doch bei ihm sein."

Sascha hat sich entschieden, weiter zu helfen. Sie unterstützt das Militär und andere Gruppen als Übersetzerin. Denn sie spricht fließend Englisch. In der Ukraine eine eher seltene Fähigkeit.

Während Sascha spricht, jault eine Sirene auf – und Saschas Blick versteinert.

"Wir sollten schnell gehen", sagt sie, steigt in ihr Auto und fährt davon.

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