Drei Tage lang haben sich die sieben größten Industrienationen der Welt auf dem G7-Gipfel im bayerischen Elmau über die Weltwirtschaftslage beraten. Am Dienstag ging es für Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Joe Biden und einige andere Staats- und Regierungschefs weiter nach Madrid: zum Nato-Gipfel.
Zentrales Thema ist auch hier – genau wie beim G7-Treffen – der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Vor diesem Hintergrund hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Vorfeld des Gipfels am Montag angekündigt, die Eingreifkräfte verstärken zu wollen. Er sprach von der "größten Neuaufstellung unserer kollektiven Verteidigung und Abschreckung seit dem Kalten Krieg".
Das bedeutet: die bisher rund 40.000 einsatzbereiten Soldatinnen und Soldaten der Nato, sollen nun auf rund 300.000 erhöht werden. Das soll unter anderem beim Gipfel beschlossen werden.
Zudem wird es vermutlich auch um den möglichen Nato-Beitritt der Länder Schweden und Finnland gehen. Die Türkei hatte diesbezüglich Vorbehalte geäußert. Deshalb finden heute vor dem Start des Nato-Gipfels Beratungen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sowie Finnlands Präsident Sauli Niinistö statt.
Was von dem Nato-Gipfel zu erwarten ist und was die Erhöhung der Eingreifkräfte bedeutet, hat watson für euch zusammengefasst.
Die Aufstockung der Nato-Eingreiftruppe, auf Englisch Nato Response Force (NRF) ist Teil des neuen Streitkräftemodells des gesamten Bündnisgebietes. Sie sollen unter anderem bestimmten Gebieten zugeordnet werden. Dadurch könnten zum Beispiel deutsche Soldaten eingeplant werden, um etwa litauische Truppen im Falle eines russischen Angriffs zu unterstützen.
Solange es keinen Angriff gibt, sollen die Truppen unter nationalem Kommando stehen. Im Ernstfall könnten sie aber durch den Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa angefordert werden. Auch sind feste Zeiten für die Einsatzbereitschaft im Gespräch. So sollen manche Einheiten beispielsweise innerhalb von höchstens zehn Tagen bereit für die Verlegung sein. Weitere Details für den Ernstfall sind allerdings noch nicht bekannt. Sie sollen aber in neuen regionalen Verteidigungsplänen festgeschrieben werden, die im kommenden Jahr fertig sein sollen.
Für den Krieg in der Ukraine bedeute das allerdings zunächst nichts, sagt Gustav Gressel, Militärexperte beim Thinktank European Council on Foreign Relations, auf Anfrage von watson. Die Nato stehe nicht im Krieg und die NRF übernehme keine Aufgaben für die Ukraine, wie beispielsweise das Training von Streitkräften, führt er aus.
Für Deutschland, als Nato-Mitglied, sei die Aufstockung der Eingreiftruppe jedoch sehr wohl bedeutsam. Denn die Bundeswehr geriet in der Vergangenheit immer wieder in die Bredouille, wenn es darum ging, Streitkräfte bereitzustellen, sagt Gressel. Allerdings sei noch offen, wer die rund 260.000 zusätzlichen Soldatinnen und Soldaten stellen soll. Deshalb seien die Auswirkungen auf Deutschland noch schwer zu beurteilen, fügt Gressel hinzu.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und FDP-Politikerin, betonte im Gespräch mit dem "Deutschlandfunk": Es handele sich bei der Erhöhung der einsatzbereiten Nato-Streitkräfte nicht etwa um Anzeichen einer weiteren "Eskalationsspirale", sondern vielmehr um ein "Aufwachen" der freien westlichen Welt.
Militärexperte Gressel bestätigt das und betont, dass es sich bei einer angeblichen "Eskalationsspirale" vor allem um russische Propaganda handele.
Er fügt hinzu:
CDU-Verteidigungspolitiker Wolfgang Hellmich sieht in der Aufrüstung der Nato-Eingreiftruppen vor allem eine Abschreckungswirkung:
Agnieszka Brugger, Grünen-Verteidigungspolitikerin, teilt diese Meinung. Man müsse glaubhaft ausstrahlen können, dass es keine Zweifel an der Beistandsverpflichtung der Nato gebe und man in der Lage sei, sich entschieden und schnell zu verteidigen.
Sie sagt:
Russland wurde in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine immer aktiv, sobald es der Westen wurde. Als beispielsweise der UN-Generalsekretär António Guterres in Kiew war, wurde die Stadt angegriffen. Und während des G7-Gipfels in Elmau wurde ein Einkaufszentrum in Krementschuk bombardiert. Dieses Vorgehen könnte als Warnung Russlands an den Westen gewertet werden.
Doch das sei nicht der Fall, betont Gressel. Das Ausrotten der Ukraine sei das erklärte Kriegsziel, Kriegsverbrechen seien seit dem 24. Februar fester Bestandteil der Kriegsführung Russlands. "Das hat nichts mit uns zu tun, das ist die Befehlslage im Kreml", fügt der Militärexperte hinzu.
Gressel erwartet vom Nato-Gipfel vor allem klarere Ziele, "was wer bis wann mit welchen Kräften zu tun hat." Sollten sich die 30 Nato-Mitgliedsstaaten auf eine Aufstockung der NRF verständigen, müssten bald auch die Zuständigkeiten und die Zeiten der Einsatzbereitschaft geklärt werden.
Aber auch mit Blick auf die Verhandlungen zwischen der Türkei und Schweden sowie Finnland wird der Nato-Gipfel mit Spannung erwartet. Erdoğan kritisierte die beiden skandinavischen Staaten vor allem für deren angebliche Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Joe Biden will Erdoğan im Rahmen des Nato-Gipfels dazu zu bilateralen Gesprächen treffen.
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gilt dieser Nato-Gipfel als "der" Meilenstein für wegweisende Beschlüsse – wie das neue strategische Konzept der Streitkräfte. Er soll sowohl ein Zeichen in Richtung eigener Bevölkerung senden, als auch in Richtung möglicher Gegner.