"Das hat katastrophale wirtschaftliche Folgen für jedermann, der in dieser Branche tätig ist." Marco Berlinghof, Inhaber des Tattoo-Studios PikAss in der Nähe von Mannheim, schätzt die aktuelle Lage der Tattoo-Branche als kritisch ein.
Grund für den Unmut unter Tätowierern ist die geplante EU-Verordnung "REACH", die am 4. Januar 2022 in Kraft getreten ist. "REACH" steht für die englische Bezeichnung von "Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe". Konkret geht es dabei um das Verbot der Farb-Pigmente Blue 15 und Green 7, die in gut zwei Drittel aller Tattoo-Farben enthalten sind.
Watson hat mit Tattoo-Studios in Deutschland darüber gesprochen, wie sie sich auf das Verbot vorbereitet haben und wie sie die Zukunft der Tätowiererinnen und Tätowierer einschätzen.
Die Nachricht des Verbots kam für Tattoo-Studios und Farbhersteller zwar nicht überraschend, dennoch hat sie weitreichende Folgen, wie Marco Berlinghof gegenüber watson betont. Vor allem das Problem, dass sich die Künstler über einen längeren Zeitraum zunächst an die neuen Farben gewöhnen müssen, beschäftigt den Studio-Inhaber aktuell. Die Tätowierer bekommen zwar eine Übergangsfrist von drei Monaten zugestanden, diese reiche laut Berlinghof jedoch bei weitem nicht aus.
Bereits im Januar 2021 brachte der "Bundesverband Tattoo" die Petition "Save the Pigments" ins Rollen, um auf die anstehende Veränderung in der Branche aufmerksam zu machen:
Auch wird eine mögliche Gefahr, die von qualitativ minderwertigen Tattoo-Praktiken ausgehen könnte, angesprochen: "Ebenso fördert ein solches Verbot das Aufleben der sogenannten Hinterhof Tätowierer, sprich illegalen Anbietern sowie das Ausführen gewerblich unangemeldeter Praktiken."
Die Europäische Chemikalienagentur hat die Verordnung erarbeitet, welche anschließend vom Umweltausschuss genehmigt wurde. Laut Tiemo Wölken (SPD), Mitglied dieses Ausschusses, liegt die Begründung der neuen Verordnung darin, dass die betreffenden Stoffe nicht nachweisbar sicher sind. Das erklärte er gegenüber dem öffentlich-rechtlichen "Funk"-Format "Die.da.oben".
Bei "REACH" geht es jedoch nicht nur um zwei Pigmente, sondern um über 400.000 Stoffe – zwei davon sind die für die Tattoo-Farben wichtigen Pigmente Green 7 und Blue 15. Die Chemikalienverordnung sieht vor, dass von den Herstellern der Chemikalien bewiesen werden muss, dass diese unschädlich sind, wie Wölken bei "Die.da.oben" erläutert.
Das Problem: Die Studien, die eine solche Ungefährlichkeit der beiden Pigmente nachweisen sollen, reichen für die Vorgaben der "REACH" nicht aus. Deshalb sind Tätowierer und Tätowiererinnen sowie Tattoo-Studios nun dazu gezwungen, alle Farben, die diese Pigmente enthalten, aus ihrem Sortiment zu nehmen.
Eine weitere Problematik tut sich zudem jetzt auf: Es gibt nach wie vor keine verlässlichen Alternativen zu den künftig verbotenen Farben und das, obwohl das Verbot erwartbar war. Wie gehen Tattoo-Studios damit um? Gibt es jetzt keine Farb-Tattoos mehr?
Bis 2023 haben Hersteller jetzt Zeit, um solche Alternativen zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Einige Hersteller haben dies auch schon getan. Andere wiederum verkündeten bereits, dass nach der "REACH" ihr komplettes Sortiment verboten sein wird. Umso wichtiger sind schnelle Lösungen für die Tattoo-Branche.
Der Hersteller World Famous Ink hat laut einer Mitteilung des Unternehmens bereits im letzten Quartal 2021 einige "REACH"-konforme Farben in den Verkauf gebracht, weitere sollen im diesen Jahr folgen. Laut der Branchenzeitschrift "Tattoo-Spirit" kündigten offenbar noch weitere Hersteller "REACH"-konforme Farben an. Die Firmen Eternal Ink und Panthera wollen dem Beispiel von World Famous Ink folgen.
Die Inhaberin des Tattoo-Studios All Style Tattoo Berlin, miss Nico, rechnet allerdings mit einem Run auf die neuen Farben. Sie geht "davon aus, dass es bis Januar zu mindestens neue Basisfarben geben wird", jedoch "nicht die kompletten Farbpaletten", wie sie auf watson-Anfrage erklärt. Die Tätowiererin stelle sich deshalb "vorübergehend" auf "Engpässe" bei den neuen Farben ein.
Trotz der neuen Farben sieht miss Nico die neue "REACH"-Verordnung als "nicht tragbar" an, da "die gegebene Frist von drei Monaten einfach zu kurz ist, um adäquat große Tätowierungen fertigstellen zu können, ohne große Farbunterschiede innerhalb eines Bildprojektes zu bekommen", erklärt sie gegenüber watson.
Die Studio-Inhaberin würde sich von der Politik wünschen, dass den Tätowiererinnen und Tätowierern gestattet werden würde, "die noch im Studio vorhandenen Farben zu verbrauchen, um einen 'weichen' Übergang zu den neuen Farben zu bekommen." Diese müssten stattdessen weggeworfen werden. Das sei sowohl "wirtschaftlich gesehen unmöglich" als auch "nachhaltig gesehen nicht besser".
Neben der Petition "Save the Pigments" ist eine Studie in Arbeit, die die unzureichende Datenlage für die beiden Pigmente Green 7 und Blue 15 verbessern soll. Auf diesem Wege könnten die beiden Pigmente doch noch erlaubt bleiben. Das Bundesinstitut für Risikobewertung suchte dafür in Zusammenarbeit mit der Charité in Berlin Probanden, die sich mit den beiden Pigmenten unter medizinischer Begleitung tätowieren lassen.
Auch miss Nico hat sich der Studie angeschlossen, wie sie gegenüber watson erzählt. Sie erhofft sich von der Studie, ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen, "eine Unbedenklichkeitsbestätigung" über die betreffenden Pigmente in den Tattoo-Farben.
PikAss-Inhaber Marco Berlinghof nennt noch ein weiteres Problem, dass in der "REACH"-Verordnung offenbar nicht bedacht wurde: Was passiert mit noch nicht fertig gestochenen Tattoos? Diese Frage dürften sich auch einige Kunden und Kundinnen von Tattoo-Studios stellen. Darauf hat Berlinghof derzeit selbst noch keine Antwort.
Das All Style Tattoo-Studio von miss Nico steht vor der gleichen Herausforderung:
Eine solche Transparenz führt offenbar allerdings dennoch nicht zur Beruhigung unter der Kundschaft. So erzählt miss Nico bei watson davon, dass sie sich "beinahe täglich mit diesem Thema mit unseren Kunden/innen" auseinandersetzen müsste.
Doch die Ansichten gehen hier auseinander. Denn vorrangig betroffen sind von der Verordnung die Studios, die vor allem mit Farben tätowieren. Solche, die fast ausschließlich oder nur mit Schwarz arbeiten, werden nur bedingt in ihrer Arbeit eingeschränkt, da es bereits entsprechende Alternativen gibt. Daher sieht sich das Studio Surface Tattoo von der neuen Verordnung nicht so stark betroffen.
Die Künstler des Münchner Studios sind "zuversichtlich, dass 'REACH'-konforme Farben kommen werden" und haben "keine Angst davor", wie Anne vom Surface Tattoo im Gespräch mit watson erklärt. Diese Haltung rührt jedoch auch daher, dass das Studio von der Corona-Pandemie schwer gebeutelt ist. "Uns kann nichts Schlimmeres mehr passieren", gibt sich Anne resigniert.
Ob die Petition des Bundesverband Tattoo noch eine Besserung der Lage herbeiführen kann, bleibt weiter fraglich. Wünschen würde es sich Marco Berlinghof von PikAss jedenfalls. "Ich erhoffe mir eine Aufschiebung der Frist, sodass wir mehr Zeit bekommen, uns auf die neuen Farben einzustellen."