Es gibt Ereignisse, die sieht man kommen und glaubt doch erst daran, wenn sie wirklich passieren. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Juni 2021 ist so eines.
Als die radikalislamistische Organisation das Land nach zwanzig Jahren überrannt hatte, war die Überraschung vor allem im Westen groß – und die Sorge ebenfalls. Denn Deutschland und viele andere europäische Länder hatten Ortskräfte in Afghanistan, die nun in Gefahr waren – und auch heute noch sind.
Im August 2021 hat die deutsche Bundeswehr eigenen Angaben zufolge schließlich 5.340 von ihnen evakuiert. Dennoch wurden abertausende Ortskräfte im Nahen Osten zurückgelassen. Die Ampelregierung hat sich jetzt dazu entschlossen, diese Evakuierung aufzuarbeiten – um für die Zukunft aus den gemachten Fehlern zu lernen.
Die Ortskräfte, die noch immer in Afghanistan festsitzen, profitieren von diesem Schritt nur bedingt. Denn die Lage am Hindukusch ist seit der Machtübernahme der Taliban sehr komplex – und wird von außen immer undurchsichtiger. Das liegt unter anderem daran, dass sich die Lebenswirklichkeiten der 35 Millionen Menschen in dem Land, das etwa doppelt so groß ist wie Deutschland, je nach Region stark unterscheiden.
"In Afghanistan gibt es ein riesiges Gefälle zwischen Stadt und Land", erklärt Islamwissenschaftler und Afghanistan-Experte Jörgen Klußmann im Gespräch mit watson. Die Menschen in den großen Städten wie Kabul, Kandahar und Dschalalabad hätten sich in den vergangenen Jahren westlichen Werten zugewandt und einen fortschrittlichen Lebensstil geprägt. Die meisten Menschen leben in Afghanistan aber auf dem Land, wo eher traditionelle Werte gepflegt werden.
Diese traditionellen Werte sorgen laut Klußmann für einige der Schreckensszenarien, die wir im Westen von Afghanistan sehen. Klußmann sagt:
Gemeint sind die gewaltsamen Übergriffe auf Zivilisten und die gezielte Verfolgung, Folterung und Tötung von Menschen. Diese werden nicht ausschließlich von den Taliban begangen, meint der Experte. Die offenen Rechnungen entstehen in Afghanistan oft aus Rache, religiösen Beweggründen oder zwischen den unterschiedlichen Ethnien. Afghanistan versammelt nämlich viele verschiedene Kulturen und gilt daher als Vielvölkerstaat.
Die Paschtunen (auf Deutsch: Afghanen, 42 Prozent der Bevölkerung) leben vor allem im Süden, Osten und Westen. Im Norden trifft man Tadschiken, Turkvölker, Usbeken oder Turkmenen an. Hinzu kommen bewaffnete Milizen, die sich über die Jahre hinweg in Afghanistan niedergelassen haben – allen voran die Taliban und der Islamische Staat (IS). Und sie alle wollen ihre Auffassungen in Afghanistan durchsetzen.
Nach russischen und britischen Machtbestrebungen in diesem strategisch wichtigen Land, einer kurzen Unabhängikeit und der darauffolgenden Schreckensherrschaft der Taliban in den 1990er Jahren, versuchten internationale Truppen im Jahr 2001, das Land wieder in eine demokratischere und weltoffenere Richtung zu lenken.
Die Regierung wurde aus der nationalen Einheit gegründet, internationale Hilfsgelder und die Anwesenheit des westlichen Verteidigungsbündnisses Nato sorgten seitdem dafür, dass das Land an Stabilität gewann.
Bis im Juni 2021 die Taliban zurückkehrte auf die internationale Bühne.
Für Afghanistan-Experte Jörgen Klußmann, ist diese Entwicklung kaum verwunderlich: "Die Taliban waren eigentlich nie weg, sie haben nur jahrelang im Untergrund Afghanistans agiert, bevor sie die Macht übernommen haben."
Hinzu komme: Rund drei Viertel des Landes bestehen aus schwer zugänglichen Gebirgen, das habe es den Taliban leicht gemacht. Deshalb ist sich der Experte sicher: "Die Taliban haben sich im Land verteilt, manche haben sogar als Soldaten oder Polizisten gearbeitet." Also unerkannt darauf gewartet, dass sich die Zeiten wieder ändern.
Aus einer Sache machen die Taliban allerdings kein Geheimnis: Ihrer Einstellung zu Frauen.
Die meisten Einschränkungen, die es in Afghanistan seit der Machtübernahme gibt, betreffen Mädchen und Frauen. Sie dürfen nicht mehr arbeiten, nicht studieren, nicht zur Schule gehen und müssen sich vollkommen verschleiern. Wer allein reist, der wird nach Hause geschickt. Wenn eine Frau gegen die Regeln verstößt, wird ihr männlicher Vormund bestraft – den braucht jede Frau nun in Afghanistan, denn sie selbst ist nicht mündig.
Die Taliban rechtfertigen diese strikten Maßnahmen mit dem Koran. Laut Klußmann ist das eine sehr engstirnige Auslegung: "Im Islam gibt es durchaus frauenfeindliche Ansätze, genauso wie im Christentum auch. Das bedeutet aber nicht, dass die gesamte Religion frauenfeindlich ist."
Allerdings ist es in vielen islamischen Ländern tatsächlich so, dass die Emanzipation kaum große Fortschritte macht. In Afghanistan hatten sich aber in den vergangenen Jahren zahlreiche Frauenorganisationen gegründet, Frauen hatten mehr Zugang zu Bildung und konnten politische Ämter und höhere Positionen besetzen.
Das ist nun wohl Geschichte. "Wenn die Taliban so weitermachen, dann herrschen in Afghanistan bald wieder die gleichen Zustände, wie in den 90er Jahren", sagt Klußmann. Und das treffe nicht nur auf die Rechte von Frauen zu. Afghanistan gehe es nämlich generell nicht gut. Das Land hatte schon vor der Herrschaft der Taliban mit Armut, Hungersnöten, Korruption und den Folgen der Klimakrise zu kämpfen. "Seitdem hat sich die humanitäre Situation dort noch einmal deutlich verschärft."
Laut der Uno wurden in diesem Jahr bereits 1,1 Millionen Kinder im Krankenhaus wegen schwerster Unterernährung behandelt. Man dürfe nicht vergessen, dass in Afghanistan seit mehr als 50 Jahren Krieg herrsche. "Durch die vielen Angriffe wurde in dem Land deutlich mehr zerstört, als wir uns hier vorstellen können."
Auch wenn der Krieg vorerst vorbei ist, gehen die bewaffneten Auseinandersetzungen im Land weiter. Erst am Wochenende gab es eine Anschlagsserie in Kabul mit Todesopfern. Denn Terrororganisationen wie der Islamische Staat geben sich mit der strikten Herrschaft der Taliban nicht zufrieden – sie wollen ein noch radikaleres System. Gegen solche Gruppen können sich die Taliban laut Experte Klußmann nicht gut durchsetzen – Angriffe dieser Art könnten sie nur schlecht unterbinden.
Afghanistan hat bis zur Machtübernahme der Taliban zum großen Teil auf internationale Gelder gebaut. Diese sind seither fast komplett weggefallen. Einzig humanitäre Hilfe wird momentan geleistet – auch von Deutschland. Auf Dauer wird aber mehr nötig sein, um den Menschen im Land zu helfen. Sollte man dafür mit den Taliban verhandeln? Für Islamwissenschaftler gibt es darauf nur eine richtige Antwort: Ja!
Denn sie sind die Machthaber in Afghanistan, auch wenn sie international kaum anerkannt werden. Auch von Deutschland nicht.
Und das sollte auch nicht bedingungslos passieren. Im Gegenteil: "Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass die Taliban ihre Versprechen auch einhalten." Zuletzt haben sie ihre Versprechen gebrochen, indem sie Mädchen nun doch nicht mehr zur Schule gehen lassen. Auch die Auflösung der unabhängigen Menschenrechtskommission in Afghanistan ist ein klares Zeichen für den Weg, den die Taliban einschlagen.