Tödliche Anschläge auf israelische Soldat:innen. Ein israelischer Mob, der eine palästinensische Siedlung verwüstet und dabei Menschen tötet. Massenproteste gegen die umstrittene Justizreform der israelischen Regierung. Der Nahostkonflikt brodelt.
In dieser bereits aufgeheizten Lage beginnt der Ramadan am 21. März – der heilige Fastenmonat, eine der Säulen des Islams. Womöglich könnte dieser ein großer Funke im Pulverfass Nahostkonflikt werden.
In der Vergangenheit kam es vor allem während des Ramadans immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den verfeindenden Lagern. Der Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina droht zu eskalieren, warnen Expert:innen, so auch Mohammed Abu-Nimer.
Als Professor lehrt er "Friedens- und Konfliktforschung" an der American University in Washington, D.C. in den USA. "Die Eskalation hat ein hohes Niveau erreicht, das im israelisch-palästinensischen Konflikt seit Jahren nicht mehr gesehen wurde", sagt er im Gespräch mit watson. Er zieht die israelische Regierung in die Verantwortung.
Die neue Art der Gewalt, die von den israelisch-jüdischen Siedler:innen des rechten Flügels ausgeht, erhöht laut Abu-Nimer das Spannungsniveau auf ein extrem neues Level. "Der Konflikt wirft die Palästinenser:innen vor Ort in einen Überlebensmodus", meint er. Der Politikwissenschaftler berichtet von den Sorgen einer palästinensischen Mutter:
Die Angst vor der Gewalt Israels sei real, meint Abu-Nimer. Gerade jetzt, in der ohnehin schon angespannten Lage, müsse die israelische Regierung deeskalierende Maßnahmen für den Ramadan durchführen. "Je mehr Einschränkungen das israelische Militär und die Siedler der palästinensischen Mobilität auferlegen, desto wütender und frustrierter werden die Palästinenser – sowohl Muslime als auch Christen – sein", erklärt er.
Der Ramadan sei ein heiliger Monat des Gebets und der spirituellen Reflexionen. Für Angehörige muslimischen Glaubens ist es ein Monat der gelebten Gemeinschaft und der familiären Solidarität. "Es ist kein Monat der Gewalt oder des Blutes", sagt Abu-Nimer. Muslime wollen Zugang zu ihren heiligen Stätten, um zu beten. Auch sollten sie einander besuchen dürfen, um Ramadan zu feiern, meint der Konfliktforscher.
Für ihn ist klar: Das Problem liegt nicht im Ramadan, sondern in der Sperrung der Durchgänge zu den heiligen Stätten. Menschen würden daran gehindert, ihre Religionsfreiheit auszuleben. Damit raube man ihnen das Recht auf Religionsausübung. Der Politikwissenschaftler Patrick James schätzt das Konfliktpotenzial für einen großen Aufstand zum Ramadan hingegen als gering ein.
Es würde Palästinenser:innen unnütz Leben kosten, aber kaum ihre Lage verbessern. Stattdessen rechnet James, Professor für internationale Beziehungen an der University of Southern California, eher mit symbolischen Aktionen seitens Palästinas zum Ramadan. Großes Potenzial für eine Eskalation des Konfliktes in der Region sehe er nicht. Auf watson-Anfrage sagt er:
Denn es gebe "per se keinen 'arabisch-israelischen' Konflikt" mehr, meint James. Stattdessen liege der Hauptfokus auf dem Iran. Um sich gegen die iranischen Interessen in der Region zu stellen, hat sich laut James eine "surreale Zweckkoalition" aus etwa Israel, Ägypten und Saudi-Arabien gebildet. Diese wird von außen von den USA unterstützt.
"Solange das Abraham-Abkommen intakt bleibt, werden die Palästinenser ziemlich isoliert bleiben", meint James. Die Abraham-Abkommen wurden 2021 zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain unterzeichnet. Später folgten Abkommen mit Marokko und dem Sudan.
Abu-Nimer sieht das offenbar kritischer. Für den Experten war der palästinensisch-israelische Konflikt schon immer ein Auslöser für eine breitere Gewalt in der Region. Er sagt:
Laut Abu-Nimer ist der Nahostkonflikt und seine Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Ihm zufolge stacheln vor allem israelische Siedler:innen zur Gewalt auf und riskieren damit eine Eskalation des Konflikts. "Die Ausweitung von Siedlungen und die Beschlagnahme von palästinensischem Land ist die Hauptursache für Gewalt und Eskalation", sagt er.
So eindimensional betrachtet der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour den Konflikt nicht. In einem früheren Gespräch mit watson warnt er etwa vor einer zunehmenden Radikalisierung unter den Jugendlichen – und zwar auf israelischer sowie palästinensischer Seite.
Die junge Generation zelebriere in beiden Lagern ihre Gewalt, Emotionen sowie Opferrolle. Vor allem die Palästinenser:innen verlagerten ihre Propaganda auf die sozialen Medien und gäben dadurch lösungsorientierten Stimmen keine Chance. Auf den bevorstehenden Ramadan blickt Mansour besorgt. Er habe das Gefühl, dass eine Eskalation unvermeidbar geworden ist.
Laut "Spiegel" greifen mehr und mehr palästinensische Jugendliche in den besetzten Gebieten zu den Waffen. Dem Bericht zufolge gibt es neue Milizen, deren Mitglieder gerade mal volljährig sind. Sie gehören nicht dem islamischen Dschihad an, auch nicht der Hamas oder Fatah. Sie sollen sich "Brigaden" nennen. Zudem erhält eine Truppe aus Nablus zunehmend internationale Aufmerksamkeit: "Arin al-Usud", die Höhle der Löwen.
Im Westjordanland schaukeln sich demnach die rechtsradikale Regierung Benjamin Netanyahus und junge Palästinenser:innen gegenseitig hoch. Doch wie könnte einer Zuspitzung des Konflikts entgegengewirkt werden? Laut Politikwissenschaftler James gibt es darauf keine ermutigende Antwort.
"Die Konfrontation wird wohl anhalten, solange die Siedlungen bestehen", sagt er. Seiner Meinung nach wird sich in naher Zukunft nichts Positives in der Region entwickeln. Abu-Nimer hegt hingegen Hoffnung und fordert einen klaren Schritt der Weltgemeinschaft.
"In diesen Gebieten müssen Streitkräfte der Vereinten Nationen stationiert werden, um eine weitere Eskalation zu verhindern", fordert er. Ein sofortiger Schutz der Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten sei erforderlich.
Zudem müsse die israelische Regierung für ihre Unterstützung der "faschistischen und rassistischen Minister" sanktioniert werden. Damit meint er die rechtsextremen Politiker Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Mit Unterstützung von Netanjahu führen sie die radikale Kampagne gegen Palästina an.
Abu-Nimer führt weiter aus: Die internationale Gemeinschaft sollte israelische Regierungsbeamte boykottieren und zur Rechenschaft ziehen. Maßnahmen, die von oder gegenüber Palästina ergriffen werden könnten – dazu bringt Abu-Nimer keine Vorschläge.