Fast zwei Jahrzehnte hat der Einsatz der USA und anderer Nato-Mitgliedsstaaten in Afghanistan gedauert. Zehntausende Menschen sind während des Konflikts gestorben, darunter 59 Bundeswehrsoldaten. In diesen Tagen geht er auf tragische Art zu Ende: Die radikalislamischen Taliban haben Afghanistan überrollt – und die Macht im Land an sich gerissen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte laut der Nachrichtenagentur AFP am Montag zur Entwicklung: "Für die vielen, die an Fortschritt und Freiheit gebaut haben – vor allem die Frauen –, sind das bittere Ereignisse."
Welche Lehren müssen Deutschland und Europa aus dem Desaster in Afghanistan ziehen? Was bedeutet es für die anderen 12 Auslandseinsätze mit rund 3.500 Soldatinnen und Soldaten? Und steigt durch die Machtübernahme der Taliban die Terrorgefahr im Westen? watson hat darüber mit Carlo Masala gesprochen, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.
Watson: Herr Masala, knapp 20 Jahre lang waren Soldaten aus Deutschland und anderen Nato-Staaten in Afghanistan, um Terror zu bekämpfen und die Taliban zurückzudrängen. War das jetzt alles umsonst?
Carlo Masala: Die Terrorbekämpfung war nicht umsonst. Von Afghanistan geht schon seit langem keine terroristische Bedrohung mehr für Europa oder die USA aus. Diesen Teil kann man durchaus als Erfolg werten. Aber krachend gescheitert ist jeder Versuch, Afghanistan zu stabilisieren: Ich rede gar nicht von Demokratisierung – sondern einfach von normalen Regierungswechseln, davon, Sicherheitsstrukturen zu schaffen, die das Land kontrollieren.
Viele Menschen, die Auslandseinsätze der Bundeswehr immer schon abgelehnt haben, fühlen sich jetzt im Recht. Was entgegnen Sie?
Auslandseinsätze grundsätzlich abzulehnen ist falsch. Aber sie müssen mit klaren Zielen verbunden sein. Wenn die Ziele überhöht sind, dann entstehen Probleme. Vor allem dann, wenn man – wie in Afghanistan – nicht genug Mittel einsetzt: Es sind in Afghanistan zu wenige Soldaten eingesetzt worden, aber auch zu wenige Entwicklungshelfer, NGOs und so weiter. Das hat dazu geführt, dass die Soldatinnen und Soldaten Aufgaben aus der Entwicklungshilfe übernommen haben. Das ist einfach falsch.
Welche der aktuellen Auslandseinsätze sind aus Ihrer Sicht momentan sinnvoll geplant, mit klaren Zielen und dem richtigen Einsatz von Soldaten?
Alle Bundeswehreinsätze, die sich mit Überwachung beschäftigen: etwa der UNIFIL-Einsatz vor der libanesischen Küste. Aber in Mali rennen wir gerade in das gleiche Problem wie in Afghanistan.
Sie sprechen den aktuell größten Einsatz der Bundeswehr an, mit bis zu 1100 Soldaten. Er ist Teil der Missionen von EU und Vereinten Nationen, die das Ziel haben, im westafrikanischen Mali islamistischen Terrorismus einzudämmen. Inwiefern rennen wir dort in das gleiche Problem wie in Afghanistan?
Wir lassen die Soldaten anderer beteiligter Länder kämpfen und die Drecksarbeit machen. Deutschland beteiligt sich nicht an der Taskforce Takouba, die in Mali gegen terroristische Gruppen vorgeht. Deutschland macht sozusagen nur den Staatsaufbau. Außerdem haben wir keine Ahnung, wie wir die Erfolge der Mission in Mali messen sollen, beim Staatsaufbau oder bei der Ausbildung von Soldaten. Die Frage ist jetzt: Bekommen wir ein realistisches Bild über das, was wir dort überhaupt leisten können oder nicht? Oder machen wir das Gleiche wie in Afghanistan: Dass wir uns selbst in die Tasche lügen und nur sagen, wie gut wir doch dabei sind, malische Spezialkräfte auszubilden?
Was müsste jetzt passieren, damit es in Mali besser ausgeht als in Afghanistan?
Wenn wir verhindern wollen, dass in Mali, wie jetzt in Afghanistan, Islamisten das Land überrollen, dann müssen wir diskutieren, ob die Bundeswehr aktiv an der Taskforce Takouba teilnimmt: also an den harten, dreckigen militärischen Sachen. Wir können uns da nicht raushalten und die Soldaten anderer Länder die Drecksarbeit machen lassen. Wenn die Bundeswehr in Mali an Takouba teilnimmt, dann heißt das eben auch, dass deutsche Soldaten Terroristen jagen und neutralisieren. Und darüber müssen wir in Deutschland ehrlich diskutieren.
Sie wünschen sich, dass wir offener über unsere Außen- und Sicherheitspolitik diskutieren – unter anderem darüber, was deutsche Soldaten im Ausland tun sollen.
Ja. Es geht hier um die Männer und Frauen, die wir ins Ausland schicken. Ende Juni wurde auf Bundeswehrsoldaten in Mali ein Anschlag verübt. Danach hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sofort gesagt, wir müssen uns über die politischen Ziele in Mali unterhalten. Seitdem haben wir in Deutschland kein Wort mehr dazu gehört. Weil wir Wahlkampf haben, weil die meisten Politiker keinem die Wahrheit zumuten wollen.
Sie meinen, dass auch deutsche Soldaten nach Mali gehen müssten, um Terroristen zu jagen.
Ja. Man kann nicht einerseits sagen, dass wir ein Interesse daran haben, dass Mali stabil bleibt und nicht in die Hände von Dschihadisten fällt. Und andererseits die Hauptaufgabe, diese Dschihadisten zu neutralisieren, anderen Staaten überlassen. Das ist verlogen und scheinheilig.
In Deutschland wird seit Tagen Kritik laut daran, dass die Bundesregierung erst jetzt einen erheblichen Teil der Ortskräfte aus Afghanistan schafft – der Menschen also, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und jetzt in Lebensgefahr sind. FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht von einem "menschenverachtenden Trauerspiel". Wie sehen Sie das?
Wir haben viel zu spät damit angefangen, die Ortskräfte aus Afghanistan zu holen. Wahrscheinlich auch, weil wir uns auf die Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste zur Sicherheitslage verlassen haben. Und ich glaube auch, dass der Wahlkampf eine Rolle gespielt hat – dass man lieber nicht darüber reden wollte, dass man Menschen aus Afghanistan nach Deutschland holen sollte. Jetzt gibt es furchtbare Bilder, von Menschen, die versuchen, Flugzeuge aus Kabul zu stürmen. Und in Deutschland schieben sich Ministerien gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Das ist ein Trauerspiel.
In Sonntagsreden sprechen Regierungsvertreter in Deutschland seit Jahren regelmäßig von der größeren Verantwortung in der Welt, die Deutschland wahrnehmen müsse. Was müsste die nächste Bundesregierung aus Ihrer Sicht am dringendsten anpacken, um dieser Verantwortung gerecht zu werden?
Wir müssen aufhören, uns provinziell zu verhalten und uns durchzuwursteln, wie wir das bisher machen. Wir brauchen eine materielle und ideelle Wende.
Was meinen Sie damit?
Mit materieller Wende meine ich: Wenn wir wirklich Verantwortung in der Welt übernehmen wollen, dann müssen wir ja alle Akteure so ausstatten, dass sie ihren Teil beitragen können: die Bundeswehr, das Auswärtige Amt, das Entwicklungsministerium. Und wir müssen – das ist der ideelle Teil – der Bevölkerung in Deutschland auch Dinge zumuten. Wir müssen über Dilemmata reden, über Dinge, die man nicht so leicht als Erfolgsgeschichte verkaufen kann. Dass wir manchmal auch Dinge tun müssen, die eigentlich gegen unsere Werte sind – weil wir bestimmte Interessen haben.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Wir müssen weiterhin mit Iran in Kontakt bleiben, obwohl das ein menschenverachtendes Regime ist. Wir müssen möglicherweise weiter mit Saudi-Arabien kooperieren, weil die eine in gewisser Weise prowestliche Außenpolitik betreiben. Das sind alles Regime, die unsere Werte mit Füßen treten. Aber wir brauchen sie, um bestimmte Interessen zu verfolgen. Wir können nicht einfach weiterhin sagen, dass wir an einer regelgebundenen Ordnung interessiert sind, die unsere Werte reflektiert – und dann diese Ordnung mit Füßen treten. Dieses Gerede muss einfach aufhören, weil es kein Mensch versteht, weder in Deutschland noch anderswo.
Denken Sie, dass die nächste Bundesregierung die Wende, die Sie sich wünschen, angehen wird?
Eher nicht. Ich glaube, dass dieses Chaos, das mit der Beendigung des Afghanistan-Einsatzes einhergeht, unsere Außen- und Sicherheitspolitik auf Jahre beeinflusst – und ich fürchte, nicht zum Besseren. Ich fürchte, Deutschland wird weiter das Gerede von der Verantwortung wie eine Monstranz vor sich hertragen – wird sich aber dann überall dort wegducken, wo es möglicherweise schmutzig wird.
Gehört es aus Ihrer Sicht zur Verantwortung Deutschlands, jetzt zusätzliche Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen?
Ja, absolut. Wir brauchen jetzt einen gemeinsamen europäischen Ansatz, wie wir Menschen aus Afghanistan in Europa verteilen können. Die meisten der Menschen werden in der Region um Afghanistan bleiben. Aber wir müssen verhindern, dass etwa im Iran oder in Pakistan ein ähnliches Problem wie mit palästinensischen Flüchtlingen im Libanon entsteht: Menschen, die über Generationen in unwürdigen Bedingungen leben und sich gegebenenfalls radikalisieren.
Wie geht es jetzt mit Afghanistan weiter? Die chinesische Regierung will Beziehungen zu den Taliban aufnehmen, die russische Botschaft soll in Kabul bleiben. Wird die Taliban-Regierung international anerkannt?
Von einem Teil der Staaten ja, etwa von China oder Russland. Deutschland wird die Taliban sicherlich lange Zeit nicht anerkennen. Die entscheidende Frage ist aus meiner Sicht, wie groß jetzt der Einfluss Pakistans wird, das ja lange Zeit die Taliban unterstützt hat. Und wie sehr das wiederum dazu führt, dass die ganze Region noch instabiler wird.
Steigt durch die Machtübernahme der Taliban die Terrorgefahr im Westen?
Eher nicht. Wenn die Taliban es terroristischen Gruppen wie Al-Kaida wieder erlauben würden, sich niederzulassen, müssten sie mit Militärschlägen der USA und ihrer Verbündeten rechnen, dann wären die Bomber und Cruise Missiles ratzfatz wieder da. Daran haben die Taliban kein Interesse, sie wollen ja jetzt an der Macht bleiben. Ich glaube, dass die Taliban zumindest in diesem Bereich aus dem gelernt haben, was nach dem 11. September 2001 passiert ist.
Andere Experten befürchten aber, dass das Desaster für den Westen in Afghanistan Islamisten weltweit großen Auftrieb gibt. Wie sehr macht Ihnen das Sorgen?
Den Effekt wird es geben, ja. Aber das macht mir weniger Sorgen.
Warum?
Es hat sich gezeigt, dass Terrorgruppen, die Anschläge in großem Stil verüben wollen, dafür ein Territorium brauchen, um sie vorzubereiten und zu planen. Und wenn die Taliban das nicht erlauben, dann bekommen sie dieses Territorium nicht. Deswegen sehe ich Attentate wie 2004 in Madrid, 2005 in London oder 2015 in Paris nicht auf uns zukommen.
Die Taliban führen momentan eine PR-Offensive durch. Suhail Shareen, Sprecher der Taliban, hat der BBC am Sonntag gesagt, die Taliban würden keine Rache nehmen, Frauen sollten die Freiheit bekommen, zur Schule zu gehen und zu arbeiten, die Presse dürfe frei arbeiten und Ortskräfte bekämen eine Amnestie. Wie glaubwürdig ist das aus Ihrer Sicht?
Da bin ich skeptisch. Ich habe das Interview gesehen, der Sprecher verbindet diese Versprechen ja immer mit der Frage, ob das konform ist mit dem Scharia-Verständnis der Taliban. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Taliban nicht hierarchisch aufgebaut sind, dass von oben alles kontrolliert werden kann. Aus Afghanistan erreichen uns Nachrichten, dass 15-jährige Mädchen, die nicht verheiratet sind, den Taliban übergeben werden sollen, dass Leute getötet werden, von denen man weiß, dass sie gegen die Taliban waren. Die Taliban machen jetzt eine Charme-Offensive, sie werden manche Dinge anders machen als 1996, als sie zum ersten Mal die Macht übernommen haben. Aber letzten Endes wird es das gleiche islamistische Regime werden, das wir kennen.
Herr Masala, gibt es bei all den deprimierenden Nachrichten aus Afghanistan etwas in dem Land, das Ihnen momentan Hoffnung macht?
Nein, nichts.