Cem Özdemir (Die Grünen) wirkt bei "Markus Lanz" deutlich berührt, als er der Holocaustüberlebenden Margot Friedländer gegenüber sitzt. ZDF/Screenshot
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"Markus Lanz": Özdemir kämpft beim Anblick der Holocaustüberlebenden Friedländer mit Tränen
10.09.2021, 16:59
Deana Mrkaja
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In wenigen Wochen wird sie 100 Jahre alt - und hat viel von ihrem Leben zu erzählen. Als die Holocaustüberlebende Margot Friedländer am Donnerstagabend bei "Markus Lanz" spricht, sind alle anderen Anwesenden ganz still. Nicht einmal der sonst sehr gesprächige Grünen-Politiker Cem Özdemir möchte viel über seine Partei plaudern. Stattdessen nimmt er – bevor Friedländer überhaupt spricht – die Brille vom Kopf, weil ihm bei ihrem Anblick Tränen über das Gesicht laufen.
"Wissen Sie, wo sie am 10. Juni mit den Grünen standen?", eröffnet Moderator Markus Lanz seine Gesprächsrunde mit einer direkten Frage an Özdemir. "Nein", antwortet dieser kurz und wirkt dabei schon etwas verwirrt. "Bei 22 Prozent. Und heute? Irgendwo zwischen 15 und 17 Prozent. Wie groß ist Ihr Frust darüber?"
Erst versucht der Grünen-Politiker noch auf die Frage zu antworten, kommt dann jedoch sichtlich ergriffen von der Anwesenheit Friedländers zu einem anderen Punkt: "Mir fällt es schwer, angesichts der Anwesenheit dieser Frau, über Prozentpunkte zu sprechen. Es ist schließlich unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert", sagt Özdemir emotional. Er zeigt auf die Umfragewerte, die hinter dem Moderator eingeblendet werden: "Das ist wichtig, aber das hier ist wichtiger", und meint damit Friedländer.
Cem Özdemir macht bei "Lanz" darauf aufmerksam, dass es wichtiger sei, mit Margot Friedländer zu sprechen als über die Umfragewerte seiner Partei. ZDF/Screenshot
Erst wirkt der Moderator durch die Reaktion aus dem Konzept gebracht, fängt sich jedoch schnell und betont, dass es gerade in diesem Superwahljahr so wichtig sei, genau auch über all das zu sprechen. Deshalb fragt er direkt bei der Holocaustüberlebenden nach, was es bei ihr auslösen würden, wenn sie beispielsweise Plakate sieht, auf denen steht: "Hängt die Grünen", darunter "Wählt deutsch". "Kommt Ihnen das auf ungute Weise bekannt vor?", möchte er wissen. "Ja, so hat es angefangen. Vielleicht etwas stärker. Aber es ist entsetzlich zu sehen, wie stark es sich verändert hat, seitdem ich nach Deutschland zurückgekehrt bin." Das Klima sei damals ein anderes, ein besseres gewesen, sagt Friedländer. Und man mache jetzt viel zu wenig dagegen.
Auch Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion, teilt diese Meinung. Parteien wie die AfD hätten den "Diskurs verschoben" und dafür gesorgt, dass "Rassismus und Antisemitismus schon fast sagbar sind". Es sei eine "erschreckende Tatsache", dass man dies offen ausleben dürfe.
Anna Staroselski macht sich Sorgen um den wachsenden Rassismus in Deutschland. ZDF/Screenshot
Journalist mit vernichtendem Urteil über Strategie zur Rassismusbekämpfung
Lanz möchte wissen, was dieser Rassismus und Antisemitismus mit den anderen Parteien zu tun habe und richtet die Frage an den Journalisten Michael Bröcker, der eine klare Haltung dazu hat: Seiner Meinung nach haben die anderen Parteien keine Strategie, keine Mittel und keine Positionierung gefunden, um die Themen zu adressieren, die die AfD adressiert hat. Die AfD sei schon "klinisch tot" gewesen, urteilt Bröcker und habe nur von der Angst der Menschen seit der Flüchtlingswelle profitiert. Dies sei ein "Versagen" der anderen Parteien.
Michael Bröcker greift die demokratischen Parteien in Deutschland hart an. ZDF/Screenshot
Man dürfe nicht den Fehler machen und die Mehrheit der Menschen in Deutschland vergessen, die laut Özdemir "anständige Leute" sind und nicht die AfD wählen. Auch bei seinen eigenen Wahlveranstaltungen würde er stets sagen, es sei egal, wem die Leute ihre Stimme geben, solange sie "demokratisch wählen". Er würde auch nicht immer alles gut finden, was seine Partei sagt.
Damit stößt er bei Lanz auf offene Ohren, der sofort Beispiele hören möchte. Doch die umschifft der erfahrene Politiker zunächst und bleibt bei Allgemeinheiten. "Fehleranalyse. Was nervt Sie am meisten? Sie befinden sich auf einer Abwärtsfahrt mit dem Aufzug gemeinsam mit der CDU." Dann erwähnt Özdemir, was er in der Vergangenheit schon häufiger getan hat: Er sagt, dass seine Partei mal bei 7 Prozent gestartet sei. "Das ist doch jetzt albern, was Sie da machen", sagt auch Lanz dazu.
Cem Özdemir will nicht damit rausrücken, was er konkret an seiner Partei kritisiert. ZDF/Screenshot
Lanz möchte wissen, ob es ein Fehler gewesen ist, "nicht auf ein anderes Pferd zu setzen", und meint damit Robert Habeck statt Annalena Baerbock. Beide seien Spitzenkandidaten, lautet auch nun die Antwort des 55-Jährigen. Am Anfang habe Baerbock Fehler gemacht, aber jetzt würde sie das gut machen. So ganz glauben möchte man ihm seine Antwort nicht. Bröcker ist sich ganz sicher, dass Baerbock sicherlich sogar in ihrem eigenen Team nachgedacht habe, ihren Platz zu räumen und wettet, dass auf dem Handy von Özdemir Nachrichten von Parteimitgliedern sind, die zugeben, dass man aufs falsche Pferd gesetzt hat. Sie habe es mit unterschiedlichen Themen einfach "verbaselt", sagt der Journalist zusammenfassend und kommt zu einem klaren Statement:
"Mit Habeck wären die Deutschen bereit gewesen, die Kanzlerschaft den Grünen in die Hände zu gegeben. Die Wahrheit ist einfach, sie ist die falsche Spitzenfrau."
Michael Bröcker
Kürzlich sollen Die Grünen eine Parteispende von 1,25 Millionen Euro erhalten haben. Die Partei, die selbst seit langer Zeit dafür kämpft, dass eine Obergrenze bei solchen Spenden eingeführt werden soll – von 100.000 Euro. "Finden Sie das gut?", fragt Lanz nach. "Ich weiß auch nur das aus den Zeitungen", antwortet Özdemir. "Sie setzen sich seit zehn Jahren für eine Obergrenze ein und nehmen dann aber das Geld an", fügt der Moderator noch einmal klärend hinzu. Der Politiker versucht sich zu retten und behauptet, die anderen Parteien hätten kein Interesse an diesem Vorschlag. Auch in dem aktuellen Programm stünde eine solche Grenze drin, sagt Bröcker: "Warum halten Sie sich nicht einfach daran? Manchmal scheitern Ihre wunderbaren Ideen an der Realität."
Als sie spricht, wird es ganz leise
An dieser Stelle bricht Lanz das Gespräch ab und widmet sich einem besonderen Gast: der Holocaustüberlebenden Margot Friedländer. Die 99-Jährige, die Theresienstadt überlebt hat, schildert in ruhigen Worten, was damals ab 1933 geschehen ist. Als Hitler an die Macht kam, soll ihr Vater noch gesagt haben: "Die meinen nicht uns" – und spielte dabei auf den Hass an, der in der Gesellschaft gesät wurde. Ihr Vater habe im Ersten Weltkrieg auf der Seite der Deutschen gekämpft. Dass er in seinem Land Hass ernten sollte, war undenkbar für ihn.
"Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute auf dieses Deutschland blicken?" Sie erzählt, dass sie, als sie in die USA emigrierte, von Deutschen Hilfe erhielt, die sie gar nicht kannte. "Es gab mir das Gefühl, dass es gute Deutsche gibt, die ihren Kopf für mich riskiert hätten." Warum sie nach Deutschland zurückgekehrt sei, will Lanz wissen. Und da macht sie ihre Punkte ganz klar: Einerseits wolle sie jungen Menschen ihre Geschichte erzählen, damit sich so etwas nie wieder wiederholt – sie spreche für diejenigen, die nicht mehr sprechen können. Zum anderen sei Deutschland einfach ihre Heimat.
"Ich bin so froh, in so einer schönen Stadt geboren zu sein. Es ist meine Stadt. Ich bin hier geboren. Ich gehöre hier her."
Margot Friedländer
Friedländer besucht häufig Schulen, hält Vorträge über ihr Leben. Wenn sie gefragt wird, woher sie die Stärke nehme, sagt sie: "Weil ich die Menschen liebe". Ihr gehe es nicht ums Politische, ihr gehe es ums Menschliche, betont sie immer wieder. "Haben Sie eigentlich nach so vielen Jahren eine Idee davon, was damals genau passiert ist und warum?" "Darauf gibt es keine Antwort. Und es wird sie auch nicht geben. Man kann sehen, wozu Menschen in der Lage sind. Dieser Hass." Man könne nicht alle Menschen lieben, aber man könne alle Menschen respektieren, egal welche Nationalität, Hautfarbe oder Religion sie haben.
Margot Friedländer hat den Holocaust überlebt. ZDF/Screenshot
Am 19. November 1938, in der Reichspogromnacht, sei ihr erstmals wirklich bewusst geworden, dass etwas nicht stimme. Sie erzählt, wie sie eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit einen "komischen Geruch" in der Stadt wahrnahm und merkte, dass es viel stiller war als sonst. Dann sah sie, dass bei vielen Geschäften die Scheiben eingeschlagen waren und die Güter auf der Straße lagen, die sich die Menschen einfach nahmen, während die Soldaten vor den Läden standen und lächelten. Ihr Bruder hätte an diesem Samstag seine Bar Mizwa haben sollen, jedoch brannte der Tempel bereits. Tagelang habe sie ihren Vater zudem nicht gesehen. Als er wiederkam, solle er nur gesagt haben, dass ihr Geschäft "arisiert" wurde – ein Wort, dass Friedländer vorher noch nie gehört hatte.
Ihre Eltern waren geschieden. So plante Friedländer später die Flucht nach Schlesien gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder. Als sie an einem Tag nach Hause geht, beobachtet sie einen Mann, bei dem sie direkt nichts Gutes vermutet. Er läuft in ihr Haus und bleibt sogar an ihrer Tür stehen. Um nicht aufzufallen, läuft sie einfach an ihm vorbei und ins nächste Stockwerk. Bis heute bekomme sie Gänsehaut, wenn sie an diesen Moment denkt.
Sie versteckte sich bei den Nachbarn, die ihr mitteilten, dass sie gesehen hätten, wir ihr Bruder weggebracht wurde. Und ihre Mutter? Die hätten sie nicht gesehen. Hoffnungsvoll besucht sie andere Nachbarn, weil sie glaubt, ihre Mutter dort finden zu können. Doch die sagen ihr, dass ihre Mutter gemeinsam mit ihrem Bruder fortgegangen sei. Sie geben ihr eine Notiz, auf der steht, dass die Mutter mit Ralf mitgegangen sei, wo auch immer sie hingehen mögen. Sie gibt ihrer Tochter noch mit, dass sie ihr Leben "machen solle". Auch eine Handtasche überreichen die Nachbarn Friedländer, darin eine Kette der Mutter und ein Notizbuch.
Beides schafft sie die ganze Zeit über vor den Nazis zu verstecken – sogar als sie 1944 selbst nach Theresienstadt verschleppt wird, nachdem sie sich jahrelang in Berlin versteckt gehalten hatte. Bis heute ist die Kette das Einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben ist.
Nur die Kette ist ihr von ihrer Mutter geblieben. ZDF/Screenshot
"Ich bin meiner Mutter unendlich dankbar für ihre Stärke. Sie hat mir das Leben gerettet." Später erfährt Friedländer, dass ihre Familie in Ausschwitz getötet wurde. Ihren Mann lernte sie im Ghetto Theresienstadt kennen. Auch er verlor seine gesamte Familie während des Holocausts. Die beiden heirateten und wanderten in die USA aus. Obwohl sie so viel Leid erfahren hat, sagt Friedländer, sei es die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen, nach Deutschland zurückzukehren.
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