Nach der Eskalation im Gaza-Konflikt kam es in Deutschland in mehreren Städten zu antisemitischen Demonstrationen. Israel-Flaggen wurden, teils vor Synagogen, angezündet, antisemitische Parolen gerufen. Sicherheitsbehörden reagierten mit erhöhter Wachsamkeit oder verstärkten den Schutz jüdischer Einrichtungen.
In Gelsenkirchen etwa musste die Polizei Teilnehmer einer antisemitischen Demonstration davon abhalten, zu einer Synagoge zu gelangen. Auch in Hannover schritt die Polizei ein. "Es kam zu konkreten Feindseligkeiten", berichteten die Beamten dort über eine Versammlung am Mittwochabend, an der den Angaben zufolge über 500 Menschen teilnahmen. In Solingen wurde in der Nacht zum Donnerstag eine vor dem Rathaus gehisste israelische Flagge angezündet. In Berlin wurde eine Israel-Flagge, die vor der CDU-Bundesgeschäftsstelle gehisst war, laut Polizei gestohlen. Auch in Berlin-Pankow sollen Unbekannte versucht haben, eine Israel-Fahne vor dem Rathaus anzuzünden. Bereits in der Nacht zum Mittwoch waren vor Synagogen in Münster und Bonn israelische Flaggen angezündet worden.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verurteile die Taten. "Unser Grundgesetz garantiert das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit", schrieb Steinmeier in einem Gastbeitrag für die "Bild"-Zeitung. "Wer aber auf unseren Straßen Fahnen mit dem Davidstern verbrennt und antisemitische Parolen brüllt, der missbraucht nicht nur die Demonstrationsfreiheit, sondern der begeht Straftaten, die verfolgt werden müssen!"
Nichts rechtfertige die Bedrohung von Jüdinnen und Juden in Deutschland oder Angriffe auf Synagogen in deutschen Städten, betonte Steinmeier. "Judenhass – ganz gleich von wem – wollen und werden wir in unserem Land nicht dulden."
Ähnlich äußerte sich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. "Politische Diskussionen mit unterschiedlichen Meinungen über den Nahostkonflikt müssen geführt werden. Angriffe auf Synagogen haben nichts, aber auch gar nichts mit Politik zu tun", erklärte Bedford-Strohm am Freitag in Hannover. Solche Angriffe richteten sich gegen Juden als Glaubensgemeinschaft. "Mit Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun. Denn Antisemitismus ist keine Meinung, sondern eine menschenverachtende Haltung."
Der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis in Nahost hat nicht zum ersten Mal Konsequenzen in Deutschland. Aber ist es schlimmer geworden – oder täuscht der Eindruck? "Durch das Internet vernetzen sich Radikale, gleichzeitig werden Morddrohungen, Vergewaltigungs- und Vernichtungsfantasien deutlicher sichtbar", sagt Antisemitimus-Experte Michael Blume gegenüber watson. "Obwohl die Kriminalität in Deutschland insgesamt sinkt, haben wir deshalb einen Zuwachs an Hassverbrechen."
Aktuell verstärken Sicherheitsbehörden die Schutzmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen – die auch in vermeintlich ruhigeren Zeiten nicht ohne Schutz auskommen. In Halle verhinderte am 9. Oktober 2019 die Qualität der Eingangstür der Synagoge, dass ein Rechtsextremist dort wie von ihm geplant ein Blutbad unter Betenden anrichtete. Dort fehlte der Polizeischutz, Bitten darum waren laut der Gemeinde als nicht notwendig abgetan worden.
Michael Blume ist Beauftragter gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg. Dort habe man 2019 mit den jüdischen Gemeinden ein Polizei-Sicherheitskonzept erstellt und zusätzliches Geld, etwa für Sicherheitstüren, Sicherheitsglas und Sicherheitspersonal, bereitgestellt. "Aber es ist natürlich super traurig, dass so etwas in Deutschland noch nötig ist", sagt er und fügt hinzu: "Dabei haben wir hier doch die Chance, ein Land zu sein, in dem sich Menschen aller Religionen und Weltanschauungen friedlich und dialogisch begegnen! Viele Menschen arbeiten wirklich für Aufklärung und Frieden, aber wir erreichen noch lange nicht alle."
Auf die Frage, was Privatpersonen in ihrem Umfeld tun können, um die Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland zu verbessern, verweist Blume zunächst auf eine Zahl: "Zu meiner Erschütterung bejahten noch 2020 unfassbare 30 Prozent der Erwachsenen in Deutschland eine direkte Gleichsetzung der israelischen Demokratie mit dem Nazi-Regime!", sagt er, und setzt mit einem Seitenhieb gegen die sogenannten Querdenker fort: "Da ist es auch kein Wunder, dass manche Querdenker in Deutschland die Regierungsformen nicht mehr unterscheiden können!"
Als Konsequenz empfiehlt er: "Jede und jeder von uns kann sich fair informieren und dadurch auch selbst vor Antisemitismus schützen." Beispielsweise wüssten ganz viele Menschen nicht, dass Israel 2005 den Gaza-Streifen und alle dortigen Siedlungen räumte. "Wieviel besser ginge es den Palästinenserinnen und auch dem Friedenslager, wenn die Hamas in Bildung und Entwicklung statt in Terror, Folter und Raketen investiert hätte!", sagt Blume.
Die Gräben zwischen beiden Parteien scheinen unüberwindbar – und doch gibt es inzwischen in sozialen Netzwerken neben Gewaltvideos aus Israel auch Wünsche nach einem friedlichen Miteinander, etwa von arabischen und jüdischen Israelis, die gemeinsam in einem Krankenhaus arbeiten.
Michael Blume hält das friedliche Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen in Deutschland für möglich, unter bestimmen Bedingungen: "Schon der große Philosoph Karl Popper hat erkannt, dass Religionen Hoffnungen stiften, aber keine niederen Leidenschaften anstacheln sollten", sagt er. Seine eigene Lebenswelt beschreibt er als funktionierende Vielfalt: "Ich bin selbst evangelischer Christ, mit einer Muslimin verheiratet, und genieße das Vertrauen und die Freundschaft auch vieler Jüdinnen und Juden, Anders- und Nichtglaubender."
Der Religionswissenschaftler ist überzeugt: "Deutschland kann ein Ort des Friedens mit globaler Ausstrahlung sein, wenn wir hier Neugier und Wissen anstelle von Verschwörungsmythen pflegen."
(Mit Material von AFP/dpa)