Lydia Benecke ist Kriminalpsychologin. In einem Gastbeitrag für watson erklärt sie das irrationale Handeln des Oppenau-Täters. Dabei rät sie zur Vorsicht in der Beurteilung des Falls – viele Aussagen darüber seien an den Haaren herbeigezogen.
Yves R. hatte am Sonntag vier Polizisten in Oppenau im Schwarzwald bedroht und ihnen ihre Waffen abgenommen. Der 31-Jährige ohne festen Wohnsitz war nach der Tat in den Wald geflüchtet. Mit einem Großaufgebot durchkämmte die Polizei am Montag und Dienstag die Gegend um Oppenau im Ortenaukreis.
Viele Menschen in Deutschland fragen sich, was einen 31-Jährigen dazu bewegt, vier Polizeibeamte zu entwaffnen und in den Wald zu flüchten. Es gibt einige gesicherte Erkenntnisse und einige – teils haarsträubende – Spekulationen.
Es handelt sich nach bisher veröffentlichtem Erkenntnisstand um einen Einzelgänger, der mit hoher Wahrscheinlichkeit eine von zwischenmenschlichen Schwierigkeiten geprägte Biografie durchlaufen hat. Seine im aktuellen Kontext besonders relevante Auffälligkeit ist die seit über einem Jahrzehnt nachweisbare, übermäßig ausgeprägte und mit mehrfachen Verurteilungen zusammenhängende Waffenaffinität. Diese lässt sich im konkreten Gesamtbild als Überkompensation des Bedürfnisses nach Macht und Kontrolle deuten.
Eine solche Überkompensation findet man häufig bei Menschen, die bereits seit ihrer frühen Biografie wiederholt die Erfahrung gemacht haben, sich macht- und hilflos zu fühlen. Hier könnte auch der entscheidende Faktor für die von außen irrational wirkende Entscheidung liegen, die vier Polizeibeamten zu entwaffnen und bewaffnet in den Wald zu fliehen.
Die hinterlassene Gartenlaube vermittelt dem Anschein nach den Eindruck, als habe R. sich in dieser ansatzweise heimisch eingerichtet. Die Konfrontation mit den Polizeibeamten bedeutete, dieses "Heim" verlassen und die von ihm offenbar übermäßig als notwendig empfundenen Waffen abgeben zu müssen. Offensichtlich bedeutete diese Situation einen Kontrollverlust und genau in diesem Kontext reagierte R. irrational. Durch die Entwaffnung der Polizisten und seine bewaffnete Flucht in den Wald stellte er in dieser Situation für sich selbst – zumindest kurzfristig – wieder die Kontrolle her. Dies erscheint zumindest als insgesamt wahrscheinliche Deutung im bekannten Gesamtkontext.
Besonders besorgniserregend ist neben seinem Vorgehen, vier Polizeibeamte zu entwaffnen und mit deren Waffen in den Wald zu fliehen, seine bisher schwerste Straftaten: 2010 verletzte er mit einer Armbrust eine gute Bekannte – hier wurde von einigen Medien vorschnell von einer Ex-Freundin gesprochen – schwer. Offenbar handelte er hierbei nicht mit Tötungsabsicht, wie bei der gestrigen Pressekonferenz in seinem Fall erklärt wurde – Zitat: "Er selbst hat bei der Tat, als er die Verletzung sah, dann den Notarzt gerufen und sich erstmal um sie gekümmert". Für diese Tat wurde R. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt, die er auch in Haft absaß.
Trotz dieser Tat verschaffte sich R. erneut unerlaubt Waffen, weswegen er 2017 und 2019 erneut verurteilt wurde. Dennoch wird von der Polizei angegeben, dass er in seiner bisherigen Lebensumgebung insgesamt nicht als "gefährlich", "rabiat" oder "schießwütig" aufgefallen sei.
Einige Medienvertreter haben die offenbar von seinem ehemaligen Vermieter getätigte Aussage, R. trage gerne schwarze Kleidung und auch im Sommer einen schwarzen Mantel, zum Anlass genommen, um ihn mit der Gothic-Szene in Verbindung zu bringen.
Eine fragwürdige Spekulation – kann es für die Vorliebe zum Tragen schwarzer Kleidung doch sehr unterschiedliche Gründe geben: Auch Metal-Fans, die eine komplett eigene Subkultur bilden, tragen beispielsweise gerne schwarze Kleidung. Allerdings gibt es auch Menschen, die sich weder der Gothic- noch der Metal-Subkultur zugehörig fühlen, obwohl sie entsprechende Musik hören und gerne schwarze Kleidung tragen. So ist ja auch nicht jeder, der gerne klassische Musik hört, automatisch in einem Konzertverein aktiv. Auch Angehörige von Sondereinsatzkommandos tragen neben Tarnkleidung schwarze Dienstkleidung.
Da Yves R. laut Oberstaatsanwalt Herwig Schäfer als "Waffennarr" einzuschätzen ist, könnte seine Kleidervorliebe auch schlicht mit seiner Vorliebe für Waffen und seiner hiermit wahrscheinlich zusammenhängenden Selbstwahrnehmung als "Kämpfer-Typ" zusammenhängen. Hierzu würde auch der schwarze Mantel passen, der bereits im Kultfilm "Matrix" vom kampflustigen Protagonisten Neo als Markenzeichen getragen wird. Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt also schlicht unmöglich, auch nur die Eingrenzung der Motivlage der Kleidungsvorliebe von Yves R. zu treffen.
Noch deutlich weniger möglich ist es, konkrete Analysen seiner derzeitigen psychischen Verfassung, seiner Wahrnehmung der Ereignisse und seiner hiermit einhergehenden Pläne zu erstellen. Yves R. hat nachweislich eine biografisch weit zurückverfolgbare Vorliebe für den Besitz von Waffen, die er trotz wiederholter Konflikte mit dem Gesetz niemals ablegte. Im vergangenen Herbst verlor er aus finanziellen Gründen seine Wohnung und lebte fortan vermutlich sowohl in den Wäldern als auch in der von ihm unerlaubt genutzten Gartenlaube, in der die aktuellen Ereignisse ihren Ausgangspunkt hatten.
An dieser Stelle allerdings lassen sich wesentliche psychologische Fragen nicht klären: Wie funktional oder beeinträchtigt ist seine Realitätseinschätzung derzeit? In welchem emotionalen Zustand befindet er sich? Welche Optionen sieht er aufgrund seiner subjektiven Bewertung der Situation für sich? All dies lässt sich anhand der aktuellen Informationslage nicht ansatzweise seriös einschätzen. Nur um einige Möglichkeiten zu nennen: Es liegen derzeit nicht genug Informationen dazu vor, wie sich der psychische Zustand des Mannes in den letzten Monaten dargestellt oder gegebenenfalls verändert hat.
So könnte er beispielsweise an einer Persönlichkeitsstörung oder einer schwereren psychischen Erkrankung wie einer wahnhaften Störung leiden. Bei Persönlichkeitsstörungen ist das Fühlen, Denken und Handeln einer erwachsenen Person chronisch anders als es bei den meisten anderen Menschen der Fall ist und aus diesen Besonderheiten ergeben sich für die Person und auch bei einigen Persönlichkeitsstörungen für deren Umwelt deutlich negative Auswirkungen. Es gibt Persönlichkeitsstörungen, die die Wahrscheinlichkeit von Selbst- und Fremdgefährdung – besonders während Krisen – erhöhen.
Bei einer wahnhaften Störung vom Typ des Verfolgungswahns wiederum glaubt eine Person unkorrigierbar und im Gegensatz zu dem, was tatsächlich geschieht, man habe sich gegen sie verschworen. Betroffene sind überzeugt davon, ausspioniert, verfolgt und auf unterschiedliche Art geschädigt zu werden. Dies sind nur zwei Beispiele für unterschiedlichste Möglichkeiten, die im vorliegenden Fall eine relevante Rolle spielen könnten. Falls relevante Störungssymptome – aus welchem Bereich auch immer – vorliegen, könnten diese die aktuelle Situationseinschätzung und Planung von Yves R. also in unterschiedlichste Richtungen relevant beeinflussen. Es ist natürlich auch möglich, dass keine psychisch diagnostizierbare Störung vorliegt.
Auch nur ansatzweise sichere Aussagen zum Psychogramm des Mannes und seiner weiteren Verhaltensweisen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Gestern führte ich einige Gespräche mit Medienvertretern, denen ich genau dies erklärte. Die positivsten Reaktionen waren, dass dies nachvollziehbar sei und man sich bei der Berichterstattung möglichst daran orientieren werden. Ein Medium entfernte sogar die nicht sachlich begründbare Behauptung eines Gothic-Bezugs.
Andere aber veröffentlichten an den Haaren herbeigezogene Aussagen zum Fall. So wird ein den ungeschützten Begriff "Profiler" nutzender, vermeintlicher Experte damit zitiert, es sei irrelevant, ob R. "normal, verrückt oder seltsam" sei. Eine solch gravierende Fehleinschätzung würde im vorliegenden Fall niemand treffen, der eine umfassende, fundierte Fachausbildung kombiniert mit solider Berufserfahrung im Bereich der forensischen Psychologie und Psychiatrie aufweist. Denn die umgangssprachliche Grenze zwischen "normal" und "verrückt" ist aus fachlicher Sicht die Grenze zwischen funktionalen und relevant gestörten Gefühls-, Gedanken- und hieraus resultierend auch Handlungsmustern.