Forschende der "Coal Exit Research Group" sind sich einig: Für den deutschen Strombedarf wird die Braunkohle unter Lützerath nicht benötigt – auch mit Blick auf die Gasknappheit nicht. Zu diesem Schluss sind Wissenschaftler:innen der Europa-Universität Flensburg, der Technischen Universität Berlin sowie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer kürzlich veröffentlichten Kurzstudie gekommen.
Dafür haben sie untersucht, welche Auswirkung die angekündigte Reaktivierung von Kohlekraftwerken auf den Förderbedarf am Tagebau Garzweiler II hat. Als Grundlage dienten den Forschenden der im Osterpaket der Bundesregierung beschlossene Ausbaupfad für erneuerbare Energien. Aber auch der für NRW angekündigte Kohleausstieg 2030 sowie eine unwahrscheinlich hohe Auslastung der Kohlekraftwerke aufgrund des Angriffskriegs Putins auf die Ukraine wurden miteinbezogen.
Das Ergebnis der Studie: Auf den Abriss des kleinen Dorfes Lützerath im Rheinland könnte verzichtet werden – wenn die Politik dies denn wollte. Dass die Kohle, die unter Lützerath liegt, aus energiewirtschaftlicher Perspektive nicht mehr gebraucht wird, ist Energieökonomin Claudia Kemfert zufolge nichts Neues: "Das haben wir bereits mehrfach in vorausgegangenen Studien errechnet", sagt sie.
Kemfert ist Mit-Autorin der kürzlich erschienenen Studie und pocht darauf, den Ausbau der erneuerbaren Energien schnellstmöglich wieder anzukurbeln und kurzfristige Ausbaupotentiale anzuheben.
Gegenüber watson sagt sie:
Damit die Pariser Klimaziele noch erreicht werden können, dürften der Studie nach nur noch 70 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden. Alles, was darüber hinausgeht, sei nicht mehr kompatibel mit dem 1,5 Grad-Ziel.
Aber auch ohne, dass das Dorf Lützerath abgerissen wird, übersteigt die noch maximal zu entnehmende Fördermenge von 210 Millionen Tonnen Braunkohle das 1,5-Grad-kompatible CO2-Budget des Tagebaus um etwa das Dreifache.
"Und trotzdem wird die Devastierung des Ortes Lützerathes durch den Tagebaubetreibenden so vehement vorangetrieben", bemängelt Kemfert. Auf Luftbildern sei zu sehen, wie "erschreckend nahe" die Bagger den Gebäuden der Ortschaft bereits gekommen sind.
Dabei geht es den Betreibenden des Tagebaus Kemfert zufolge weniger darum, an vermeintlich benötigte Vorräte zu kommen, als vielmehr darum, eine möglichst kostengünstige Abbauweise fahren zu können.
Gegenüber watson sagt sie:
Deswegen sei es so wichtig zu erkennen, wie hoch der Preis einer verschleppten Energiewende und eine mangelnde Diversifizierung der Gasquellen sein könnte: "Die deutsche Braunkohle hat immer noch einen viel zu großen Anteil an den CO2-Emissionen Deutschlands und sogar Europas", sagt Kemfert.
Die Klimaschützer:innen von Fridays for Future sehen das ähnlich. Sumejja Dizdarević, Sprecherin aus NRW, erklärt gegenüber watson:
Nun sei die Politik an der Reihe, den Erhalt der Dörfer zu gewährleisten und die Energiewende schnell voranzutreiben. "Es kann nicht sein, dass Großkonzerne von einer sozial-ökologischen Pflicht befreit und in der Zerstörung mehrerer Dörfer für fossile Profite unterstützt werden", ergänzt Dizdarević.
Noch Ende August soll der letzte Bauer in Lützerath, Eckardt Heukamp, seinen Hof verlassen. Am 1. September fallen dann juristisch alle Gebäude und Liegenschaften an RWE.
Um die Rodung des Dorfes doch noch zu verhindern, hatte das globalisierungskritische Netzwerk Attac noch am Samstag zu einer Demonstration aufgerufen. Ob die Klimaaktivist:innen auf den letzten Metern Erfolg haben, bleibt abzuwarten. Nach der Niederlage vor dem Oberverwaltungsgericht Münster Ende März hat Heukamp nach jahrelangem Widerstand aufgegeben – und sein Grundstück an RWE verkauft.
Ende Juni hatte die RWE Power AG im Braunkohlenausschuss der Bezirksregierung Köln erklärt, nicht auf das Abbaugebiet Lützerath verzichten zu wollen.
Die Chancen stehen schlecht. Obwohl die Braunkohle nicht benötigt wird. Obwohl eine weitere Kohleförderung, die mit den CO2-Emissionen vom Pariser Klimaabkommen kompatibel wäre, das sprengen würde.