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"Falsches Signal": Das sagt ein Epidemiologe zu geplanten Lockerungen in Thüringen

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow.Bild: imago images/Jacob Schröter
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Thüringen: Mit schlechtem Beispiel voran? Das sagt ein Epidemiologe zu Ramelows Plan

26.05.2020, 06:40
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Thüringen macht sich locker: Seit Samstag sorgt Bodo Ramelows Vorstoß, sämtliche Maßnahmen gegen das Corona-Virus im von ihm regierten Bundesland aufzuheben, für Kritik. So kündigte der Ministerpräsident (Die Linke) am Samstag in den Zeitungen der Mediengruppe Thüringen an: "Ab 6. Juni möchte ich den allgemeinen Lockdown aufheben und durch ein Maßnahmenpaket ersetzen, bei dem die lokalen Ermächtigungen im Vordergrund stehen."

Im Klartext bedeutet das: Anstatt landesweiter Vorschriften werden wohl lokale Regeln gelten, koordiniert von den jeweiligen Gesundheitszentren. Wenn die Zahl der Neuinfektionen 35 von 100.000 Einwohnern innerhalb einer Woche überschreitet, werden die Maßnahmen wieder angezogen werden.

Viele kritisieren Ramelows Plan als vorschnell – das sagt ein Epidemiologe

Obwohl die Neuinfektionen in Thüringen momentan im einstelligen Bereich liegen, hält Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon-Hochschule Ramelows Vorhaben für überstürzt. Im Interview mit watson sagt er:

"Es gibt zurzeit keine Lageänderung, die ein komplettes Aufheben der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung rechtfertigen würde."
Epidemiologe Timo Ulrichs

Laut Ulrichs sei auch noch nicht genug Zeit verstrichen, um die epidemiologischen Auswirkungen der Lockerungen beurteilen zu können. Seit Ende April hat Thüringen bereits Zoos, Museen und Parks geöffnet, seit Mitte Mai begrüßen auch die Restaurants wieder Gäste. Die vollständige Aufhebung aller Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt allerdings sei laut Ulrichs ein "falsches Signal", weil "sie suggeriert, wir hätten die Pandemie so gut wie überwunden".

"Das ist ungefähr so, als würde man die relative Windstille im Auge eines Hurrikans so deuten, als sei dieser bereits vollständig überstanden."
Timo Ulrichs über die geplante Aufhebung der Anti-Corona-Maßnahmen in Thüringen

Thüringen war eines der Bundesländer, das mit weniger als 3000 Infizierten verhältnismäßig schwach von der Pandemie getroffen worden ist. Dass Ramelow deshalb einen weniger strikten Kurs als beispielsweise Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fahren will, scheint zunächst einleuchtend.

Dennoch meint Ulrichs: "Die Zahlen für Thüringen bedeuten nicht, dass dort keine Ansteckungen mehr erfolgen." Er weist auch darauf hin, dass durch die begrenzten Tests auf das Coronavirus nicht alle Infizierten erkannt werden. Da viele Fälle milde bis symptomlos verlaufen, ist die Dunkelziffer schwer zu berechnen – die Forscher der Heinsberger Studie unter dem Virologen Hendrik Streeck gehen von zehnmal mehr Infizierten aus, als bisher bekannt.

Ramelows Weg könnte für den Rest von Deutschland gefährlich werden

Erschwerend kommt hinzu, dass Thüringen schließlich nicht unabhängig vom Rest Deutschlands sei, gibt Ulrichs zu bedenken: "Das heißt, vermehrte Bewegungen ohne die Sicherheitsmaßnahmen befördern eine Wiederverbreitung" – und das möglicherweise auch über die Ländergrenzen Thüringens hinaus. So könnten die Lockerungen in Thüringen zur Gefahr für ganz Deutschland werden. Das benachbarte und deutlich schwerer getroffene Bayern ist bereits nicht allzu begeistert von der Situation. Dementsprechend scharfe Worte fand der Ministerpräsident Bayerns, Markus Söder, gegen Ramelow: "Ich möchte nicht, dass Bayern noch mal infiziert wird durch eine unvorsichtige Politik, die in Thüringen gemacht wird", sagte er am Montag laut Deutscher Presse-Agentur.

"Aus epidemiologischer Sicht sollten die Maßnahmen erst dann aufgehoben werden, wenn ein schützender Impfstoff zugelassen und in Aussicht sein wird oder eine Medikation, die schwere Erkrankungen und Todesfälle sicher verhindert."
Timo Ulrichs

Anstatt die Maßnahmen auf einen Schlag aufzuheben, plädiert Ulrichs weiterhin für eine stufenweise Lockerung. Denn nur so lassen sich Auswirkungen bestimmten Maßnahmen beziehungsweise deren Aufhebens zuordnen. Das zeigen auch jüngste Ausbrüche in einem Restaurant in Leer oder nach einem Gottesdienst in Frankfurt. "Abstände von zirka zwei Wochen sind wegen der Inkubationszeit, Testzeit, Auswertung und der Meldewege sinnvoll", empfiehlt der Epidemiologe.

"Im Fall eines Wiederanstieges der Fallzahlen käme dann nur ein erneuter Lockdown infrage, also eine On-Off-Situation, und die wäre für alle Beteiligten viel unangenehmer als Lockerungen."
Timo Ulrichs

Ramelow hat mit seinen Plänen für Thüringen bereits Nachahmer gefunden: So will Sachsen ebenfalls ab dem 6. Juni die Maßnahmen gegen das Coronavirus aufheben. Das verkündete Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) am Montag in Dresden.

Thüringen – mit schlechtem Beispiel voran?

Sollte Ramelows Vorpreschen nun für ein deutschlandweites Wett-Lockern sorgen, fände Ulrichs das "sehr schade, denn dann beraubten wir uns unseres mühsam aufgebauten Schutzes." Schließlich hat Deutschland im internationalen Vergleich gerade deswegen relativ wenige Corona-Opfer zu betrauern, weil hierzulande verhältnismäßig früh recht strikte Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie eingeführt worden sind. Ein Vorteil, der aufgrund der fragilen Lage allerdings leicht verspielt werden könnte.

"Es ist gut, an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren", sagt Ulrichs. "Ohne sie hätten wir den bisherigen glimpflichen Verlauf der Pandemie in Deutschland nicht erreichen können." Aber ohne Rahmensetzung durch die getroffenen Maßnahmen gelinge es sicher nicht, die verantwortlich handelnde Mehrheit und vor allem die Risikogruppen vor einer verantwortungslosen Minderheit zu schützen.

Mittlerweile hat sich Ramelow zu der Kritik an seinen Plänen geäußert. "Ich habe nicht gesagt, dass die Menschen sich umarmen sollen oder den Mund-Nasen-Schutz abnehmen und sich küssen sollen", sagte er am Montag dem MDR. Auch beharrt er weiterhin auf die Abstandsregelungen. Wie genau die Aufhebung der Lockerungen in Thüringen Anfang Juni umgesetzt werden soll, bespricht das Kabinett am Dienstag.