Thüringen macht sich locker: Seit Samstag sorgt Bodo Ramelows Vorstoß, sämtliche Maßnahmen gegen das Corona-Virus im von ihm regierten Bundesland aufzuheben, für Kritik. So kündigte der Ministerpräsident (Die Linke) am Samstag in den Zeitungen der Mediengruppe Thüringen an: "Ab 6. Juni möchte ich den allgemeinen Lockdown aufheben und durch ein Maßnahmenpaket ersetzen, bei dem die lokalen Ermächtigungen im Vordergrund stehen."
Im Klartext bedeutet das: Anstatt landesweiter Vorschriften werden wohl lokale Regeln gelten, koordiniert von den jeweiligen Gesundheitszentren. Wenn die Zahl der Neuinfektionen 35 von 100.000 Einwohnern innerhalb einer Woche überschreitet, werden die Maßnahmen wieder angezogen werden.
Obwohl die Neuinfektionen in Thüringen momentan im einstelligen Bereich liegen, hält Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon-Hochschule Ramelows Vorhaben für überstürzt. Im Interview mit watson sagt er:
Laut Ulrichs sei auch noch nicht genug Zeit verstrichen, um die epidemiologischen Auswirkungen der Lockerungen beurteilen zu können. Seit Ende April hat Thüringen bereits Zoos, Museen und Parks geöffnet, seit Mitte Mai begrüßen auch die Restaurants wieder Gäste. Die vollständige Aufhebung aller Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt allerdings sei laut Ulrichs ein "falsches Signal", weil "sie suggeriert, wir hätten die Pandemie so gut wie überwunden".
Thüringen war eines der Bundesländer, das mit weniger als 3000 Infizierten verhältnismäßig schwach von der Pandemie getroffen worden ist. Dass Ramelow deshalb einen weniger strikten Kurs als beispielsweise Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fahren will, scheint zunächst einleuchtend.
Dennoch meint Ulrichs: "Die Zahlen für Thüringen bedeuten nicht, dass dort keine Ansteckungen mehr erfolgen." Er weist auch darauf hin, dass durch die begrenzten Tests auf das Coronavirus nicht alle Infizierten erkannt werden. Da viele Fälle milde bis symptomlos verlaufen, ist die Dunkelziffer schwer zu berechnen – die Forscher der Heinsberger Studie unter dem Virologen Hendrik Streeck gehen von zehnmal mehr Infizierten aus, als bisher bekannt.
Erschwerend kommt hinzu, dass Thüringen schließlich nicht unabhängig vom Rest Deutschlands sei, gibt Ulrichs zu bedenken: "Das heißt, vermehrte Bewegungen ohne die Sicherheitsmaßnahmen befördern eine Wiederverbreitung" – und das möglicherweise auch über die Ländergrenzen Thüringens hinaus. So könnten die Lockerungen in Thüringen zur Gefahr für ganz Deutschland werden. Das benachbarte und deutlich schwerer getroffene Bayern ist bereits nicht allzu begeistert von der Situation. Dementsprechend scharfe Worte fand der Ministerpräsident Bayerns, Markus Söder, gegen Ramelow: "Ich möchte nicht, dass Bayern noch mal infiziert wird durch eine unvorsichtige Politik, die in Thüringen gemacht wird", sagte er am Montag laut Deutscher Presse-Agentur.
Anstatt die Maßnahmen auf einen Schlag aufzuheben, plädiert Ulrichs weiterhin für eine stufenweise Lockerung. Denn nur so lassen sich Auswirkungen bestimmten Maßnahmen beziehungsweise deren Aufhebens zuordnen. Das zeigen auch jüngste Ausbrüche in einem Restaurant in Leer oder nach einem Gottesdienst in Frankfurt. "Abstände von zirka zwei Wochen sind wegen der Inkubationszeit, Testzeit, Auswertung und der Meldewege sinnvoll", empfiehlt der Epidemiologe.
Ramelow hat mit seinen Plänen für Thüringen bereits Nachahmer gefunden: So will Sachsen ebenfalls ab dem 6. Juni die Maßnahmen gegen das Coronavirus aufheben. Das verkündete Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) am Montag in Dresden.
Sollte Ramelows Vorpreschen nun für ein deutschlandweites Wett-Lockern sorgen, fände Ulrichs das "sehr schade, denn dann beraubten wir uns unseres mühsam aufgebauten Schutzes." Schließlich hat Deutschland im internationalen Vergleich gerade deswegen relativ wenige Corona-Opfer zu betrauern, weil hierzulande verhältnismäßig früh recht strikte Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie eingeführt worden sind. Ein Vorteil, der aufgrund der fragilen Lage allerdings leicht verspielt werden könnte.
"Es ist gut, an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren", sagt Ulrichs. "Ohne sie hätten wir den bisherigen glimpflichen Verlauf der Pandemie in Deutschland nicht erreichen können." Aber ohne Rahmensetzung durch die getroffenen Maßnahmen gelinge es sicher nicht, die verantwortlich handelnde Mehrheit und vor allem die Risikogruppen vor einer verantwortungslosen Minderheit zu schützen.
Mittlerweile hat sich Ramelow zu der Kritik an seinen Plänen geäußert. "Ich habe nicht gesagt, dass die Menschen sich umarmen sollen oder den Mund-Nasen-Schutz abnehmen und sich küssen sollen", sagte er am Montag dem MDR. Auch beharrt er weiterhin auf die Abstandsregelungen. Wie genau die Aufhebung der Lockerungen in Thüringen Anfang Juni umgesetzt werden soll, bespricht das Kabinett am Dienstag.