Für viele Menschen war die Woche nach Ostern eine Erleichterung. Mittlerweile ist klar: Die Cannabis-Entkriminalisierung wird wirklich kommen. Nicht ganz so wie gedacht – oder auch gehofft – aber sie kommt. In Form von Vereinen und Modellversuchen. Wie genau das alles vonstattengehen soll, wird sich wohl Ende April zeigen. Dann nämlich wollen die beteiligten Fachressorts einen konkreten Gesetzesentwurf vorstellen.
Für die Produzierenden von medizinischen Cannabisprodukten wird sich durch diese Entkriminalisierung und Teil-Freigabe erst einmal nicht viel verändern. Und trotzdem: Auch hier soll sich in den kommenden Jahren einiges tun.
Denn Cannabis kann wohl nicht nur in der klassischen Schmerztherapie helfen – sondern könnte womöglich auch eine Erleichterung für rund zwei Millionen Menschen in Deutschland bedeuten. Das Stichwort: Endometriose.
Um den medizinischen Einsatz von Cannabis voranzubringen – und das Hanf-Medikament weiterzuentwickeln, hat Allessandro Rossoni das Unternehmen Nimbus Health gegründet. Teil seines Teams ist auch der Onkologe Jan Witte. Beide sehen große Möglichkeiten im Bereich der Cannabis-Therapie. Warum, das erklären sie im Gespräch mit watson.
Bisher wird Cannabis zu medizinischen Zwecken vor allem in der Schmerztherapie bei chronischen Erkrankungen oder auch in der Chemotherapie angewendet. Witte ist aber davon überzeugt, dass Cannabis auch in vielen anderen Bereichen angewendet werden könnte. Und mit dieser Überzeugung ist er nicht allein.
Grundlage für diese Idee: Die Entdeckung des Endocannabinoid-Systems (ECS) im Nervensystem. Wie das "Ärzteblatt" in einem Artikel 2021 beschreibt, wirkt dieses ECS unter anderem bei der Stressverarbeitung mit. Weitere Beteiligungen: Steuerung von Emotionen, kognitive Funktionen und Motivation, aber auch Beteiligung bei Immun- und Entzündungsprozessen.
"Das System ist dafür zuständig, den Körper in der Balance zu halten", sagt Witte. Denn die Rezeptoren, meint der Arzt, befänden sich im ganzen Körper. "Das heißt, bei jedem Prozess im Körper ist das Endocannabinoid-System involviert", führt er aus. Im Umkehrschluss bedeute das: Bei ganz vielen Krankheiten, könnte man mit einer Cannabis-Therapie ansetzen.
Aus Sicht von Witte dürfte Cannabis auch bei der Behandlung von Endometriose helfen. Warum er davon ausgeht, erklärt Witte so:
Bisher ist Endometriose wenig erforscht. Die Therapieansätze: Entweder mit einer Antibabypille die Menstruation aussetzen – oder das Gewebe per Operation entfernen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wucherung zurückkommt. "Es ist eine Frauenerkrankung, die deshalb schon benachteiligt untersucht wird", stellt Witte klar. Aus diesem Grund gebe es auch kaum Behandlungsmöglichkeiten. Er fügt an:
Mittlerweile aber, gebe es Erkenntnisse, die nahelegen, dass Cannabis bei Endometriose hilft. Witte spricht von Befragungen in Neuseeland, Australien und den USA. Dort hatten viele Betroffene von Endometriose bei einer Befragung angegeben, sich selbst mit Cannabis zu therapieren. Zur Linderung der Schmerzen. Wissenschaftliche Studien gibt es bisher allerdings nicht.
Dass Cannabis bis heute kaum in der Endometriose-Behandlung vorkomme, habe aus Sicht von Rossoni und Witte auch mit dem strengen Betäubungsmittelgesetz zu tun. Rezepte für Medikamente, die in diese Kategorie fallen, können nicht einfach so ausgestellt werden. Dafür brauche es ein spezielles Rezept in dreifacher Ausführung, das bis heute eine rechtliche Grauzone darstelle. Für viele, meint Witte, eine große Hemmschwelle.
Hinzukomme im Bereich der Endometriose, dass viele Gynäkologie-Praxen solche Rezepte eben nicht hätten. Diese müssten dann erst einmal beantragt werden – und dann sei nicht klar, ob die Praxis überhaupt die Anforderungen erfüllt.
Kurz gesagt: An ein Cannabis-Rezept zu kommen, ist sehr schwierig. Deshalb plädieren Witte und Rossoni dafür, medizinisches Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel zu führen und so die Therapie zu erleichtern.
Aber nicht nur bei der Behandlung von Endometriose-Beschwerden könnte Cannabis ein Gamechanger sein. Die Hanfblüten könnten auch im Bereich der Schmerztherapie oder auch bei chronischen Krankheiten stärker genutzt werden.
Dass Cannabis als Therapieform noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie beispielsweise der Einsatz von Morphium oder Opiaten, liege daran, dass Forschungen zum ECS noch nicht so lange existierten. "Dass das ECS überall beteiligt ist, heißt auch: Wir könnten mit Cannabinoiden weiterkommen, als mit Opiaten", erklärt Witte.
Denn bei letzteren ist irgendwann Schluss bei der Dosierung – noch höhere Mengen könnten zum Tod führen.
Bei Cannabis ist das anders: "Was das Suchtpotenzial und die Nebenwirkungen angeht, ist Cannabis überschaubar", sagt Witte. Und dass die Behandlung wirke, zeige auch die Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Darin steht:
Die Erhebung des Bundesinstitus, meint der Onkologe, zeige, wie aussichtsreich die Cannabis-Therapie ist.
Innerhalb der Wissenschaft wird außerdem seit wenigen Jahren darüber diskutiert, wie und ob Cannabis bei psychischen Störungen helfen könnte. Denn mit den Erkenntnissen zum körpereigenen ECS geht die Frage einher: Wie wirkt sich ein Endocannabinoid-Mangel aus? Diskutiert wird in der Wissenschaft beispielsweise darüber, ob ein solcher Mangel mit psychischen Störungen wie Ängsten, Schizophrenie oder Depression zusammenhängen könnte.
In Sachen medizinisches Cannabis gibt es also noch einiges zu entdecken und zu entwickeln. Rossoni und Witte wollen mit ihrem Unternehmen Nimbus Health einen Teil dieser Weiterentwicklung mitgestalten. Dafür sind sie auf lange Frist auch in Gesprächen mit großen Pharmaunternehmen. Denn die Idee der beiden: Sie wollen verschiedene Cannabis-Pillen für spezifische Beschwerden entwickeln.
"Die Challenge wird, die richtigen Studien anzusetzen, damit man sagen kann: Dieses Molekül wirkt nachweislich besser für eine bestimmte Indikation", sagt Rossoni. Dann nämlich könnten spezielle Medikamente für spezielle Problemfelder hergestellt werden.