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Wanderung nach links: fünf Lehren aus dem Ergebnis der Bundestagswahl

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Bild: ap / Markus Schreiber
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Eine Wanderung nach links und eine bemerkenswert starke Demokratie – fünf Lehren aus dem Ergebnis der Bundestagswahl

Die Deutschen haben gewählt – wer sie in Zukunft regieren wird, ist noch längst nicht geklärt. Dennoch gibt es Dinge, die wir aus dieser Wahl lernen.
28.09.2021, 10:2528.09.2021, 10:33
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Die Linke ist zwar abgeschmiert, aber viele Deutsche sind nach links gewandert

Es war verdammt knapp für die Linke. Die Partei hat es bei dieser Wahl nur wegen der Direktmandate und der komplizierten Zurechnung der Bundestagsmandate in den Bundestag geschafft. Die Partei ist an der 5-Prozent-Hürde gescheitert. Trotzdem: Der von konservativen Parteien befürchtete "Linksrutsch" ist zum Teil eingetreten.

Die SPD, die mit ihrem Programm bei dieser Wahl mit Parteien zu ihrer Linken deutlich geliebäugelt hatte, holte nun 5,2 Prozentpunkte mehr als noch 2017. Die Grünen legten um 5,9 Punkte zu. Gleichzeitig verloren AfD und Union zusammengerechnet rund 11 Prozentpunkte.

Laut den Daten zur Wählerwanderung haben fast 2 Millionen Menschen, die 2017 noch CDU oder CSU gewählt hatten, diesmal ihr Kreuz bei der SPD gemacht. Und über eine Million frühere Unionswähler sind zu den Grünen gegangen. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, die Politologe Tarik Abou-Chadi auf Twitter als "enormen Erfolg" für SPD und Grüne kommentiert.

Mittelgroße Parteien suchen sich den Kanzler aus

Die Grünen sind nach der Wahl ein wenig zwiegespalten. Einerseits freuen sie sich, weil sie ihr historisch bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erreicht haben. Mit 14,8 Prozent ist es relativ wahrscheinlich, dass sie Teil der neuen Bundesregierung werden – wie auch immer am Ende die Konstellation aussehen wird.

Auf der anderen Seite hatten sie sich im Frühling ja noch die Kanzlerschaft erhofft. Im Sommer machten sie und ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock allerdings einen Fehler nach dem anderen, gleichzeitig brachte sich der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in Position, holte auf – und die Grünen verloren wieder mächtig an Zustimmung.

Nichtsdestotrotz sind die Grünen, wie auch die FDP, die heimlichen Wahlsieger. Das sagt auch Politikwissenschaftler und Parteien-Experte Thomas König gegenüber watson. "Im Prinzip werden beide mit Argusaugen darauf achten, dass sie ihr Profil umsetzen können." FDP und Grüne sind jetzt die Königsmacher. Sie haben es in der Hand, wer Kanzler wird: Scholz oder CDU-Chef Armin Laschet?

Die beiden mittelgroßen Parteien könnten in den Koalitionsgesprächen quasi jede Forderung stellen, sagt König. "Die Juniorpartner haben eine starke Verhandlungsposition in den Koalitionsgesprächen. CDU oder SPD bekommen die Kanzlerschaft. Grüne und FDP ihre Hauptthemen."

Bei der Pressekonferenz der Grünen antwortete Annalena Baerbock auf die watson-Frage, ob sich die Partei nun als Königsmacher sieht und ob die Grünen eine Regierung unter Umständen platzen lassen würden, mit diesen Worten:

"Wir haben einen gesellschaftlichen Auftrag und das Land hat die Sehnsucht nach wirklicher Erneuerung. Wir haben das Ergebnis und Ziel, das wir uns gewünscht haben nicht erreicht. Aber der Weg, der nun vor uns liegt, führt in die Klimaneutralität. Das ist nicht nur eine grüne Förderung, sondern die Aufgabe der Bundesregierung. Und zumindest rhetorisch haben ja alle Kandidaten klargestellt, dass sie das auch vorhaben."

Die Grünen haben die Posten intern untereinander wohl schon verteilt. Laut "FAZ" soll demnach Robert Habeck in einer künftigen Bundesregierung den Posten des Vizekanzlers bekommen. Baerbock, so werden Grüne in der "FAZ" zitiert, habe ihre Chance gehabt. Mit den personellen Konsequenzen müsse man deutlich machen, dass die Grünen nicht einfach in der bisherigen Formation weitermachen könnten, sondern "verstanden haben".

Als rote Linie bei den Sondierungen nennt Robert Habeck die Klimaneutralität. Er räumt später ein, dass die Grünen und die FDP in vielen Punkten Gegner seien – aber die Grünen nun verhindern müssten, dass es erneut zu einer Groko komme.

Die SPD hat gewonnen, steckt aber in einem Generationenkonflikt

Klar: Seit 2002 war die SPD bei einer Bundestagswahl nicht mehr vor der Union gelegen. Am Sonntag ist diese Talfahrt nun für die Arbeiterpartei unterbrochen. Da die Grünen und die FDP jetzt allerdings entscheiden, wen sie als Kanzler wollen, muss sich die SPD den Wünschen der beiden kleineren Partner anpassen.

Und das wird gar nicht so einfach. Die SPD hat mit ihren Wahlkampfthemen zwar teils sehr offensichtlich mit den Grünen geliebäugelt. Allerdings zeigt sich auch, dass die Sozialdemokraten eine besonders hohe Wählerdichte bei älteren Generationen hat. Die Partei muss also ihre Themen entsprechend anpassen.

Im Satz "Nach der Wahl ist vor der Wahl" steckt eine einfache Wahrheit jeder funktionierenden Demokratie. Eine Partei möchte schließlich an die Macht, um die Ziele zu verfolgen, die sie für die Richtigen in Deutschland hält. Um diese Ziele verfolgen zu können, braucht die Partei allerdings genügend Stimmen ihrer Wählerinnen und Wähler. Heißt: Wenn es sich die SPD in dieser Legislaturperiode mit den Menschen aus der Altersgruppe 60+ verscherzt, wird sie dafür bei der nächsten Bundestagswahl abgestraft.

Das wiederum wird für viele Diskussionen mit FDP und Grünen sorgen, die ihr Wahlprogramm beide sehr stark auf die junge Generation ausgerichtet haben. Und das kann am Ende eben auch dazu führen, dass die Sozialdemokraten trotz des Wahlsieges keinen Kanzler stellen und in der Opposition verharren.

Die Demokratie in Deutschland ist gestärkt aus der Corona-Krise gegangen

Die zwei Jahre nach dem Sommer 2017 waren die Hochzeit der rechtspopulistischen Partei AfD. Millionen Menschen waren auf der Flucht und suchten auch Schutz in Deutschland. Das hatte die ursprünglich als EU-kritische Partei gegründete AfD damals für sich genutzt. Die AfD machte Stimmung gegen Migration, schürte Angst und Hass – und konnte so letztlich 2017 bei der Bundestagswahl gut 12 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen.

Jetzt befinden sich Deutschland und die Welt in der größten Krise der Nachkriegszeit. Zwischenzeitlich gab es die Angst, die Rechtspopulisten, die auch rechtsextreme Politikerinnen und Politiker in ihren Reihen haben, könnten diese Krise erneut für sich nutzen. Die Wählerinnen und Wähler haben gezeigt, dass die Angst unberechtigt war. Die AfD verlor 2,3 Prozentpunkte. Sie wird zudem nicht mehr stärkste Oppositionspartei im nächsten Bundestag sein.

Ein weiterer Punkt, den es nach dieser Wahl in Bezug auf die deutsche Demokratie zu bemerken gibt: In Deutschland hält sich die übergroße Mehrheit der Politiker an demokratische Anstandsregeln – ohne die eine Demokratie schnell ins Rutschen gerät. Klar, der Wahlkampf war hart, teilweise sogar unter der Gürtellinie. Ob und inwieweit das in Ordnung ist, sei mal dahingestellt. Dennoch: Von den demokratischen Parteien, die dieses Mal zur Wahl standen, gab es keine einzige, die den Wahlausgang in irgendeiner Art infrage gestellt hat.

Anders sah es beispielsweise Ende 2020 in USA aus, als der heutige US-Präsident Joe Biden gegen den Republikaner und Ex-Präsidenten Donald Trump gewann. Trump hatte alles daran gesetzt, das Wahlergebnis als ungültig erklären zu lassen. Wollte gegen etliche Zählungen juristisch vorgehen.

Hier in Deutschland gratulierte man sich gegenseitig. Das ist nicht selbstverständlich.

Erzählungen funktionieren

Parteien mit Zukunftsvisionen haben diese Bundestagswahl gerockt.

Die AfD hatte bei dieser Wahl kaum noch ein Narrativ, das sie bedienen konnte. Abgesehen von der Corona-Krise gibt es innerhalb der AfD-Wählerschaft kein großes Thema, das es zurzeit zu bedienen gibt. Migration fand Corona-bedingt sogar vergangenes Jahre deutlich weniger statt als die Jahre davor, und der große Super-GAU, den die AfD diesbezüglich prophezeit hatte, blieb aus. Kurz: Den Populisten fehlte der Inhalt.

Die CDU hatte zwar ein Wahlprogramm, in dem sie ihre Inhalte dezidiert niedergeschrieben hatten. Allerdings setzte die Union in der Kommunikation auf eine andere Strategie: Negativ-Erzählungen. Das ist auch der Grund, warum in diesem Jahr so oft der Satz gefallen ist: "Wir sollten über Inhalte sprechen". Die Union hatte ihren Wahlkampf allerdings damit verbracht, die anderen Parteien und deren Kandidatinnen und Kandidaten schlechtzureden. Das kam offensichtlich nicht gut an.

Ganz anders sah es bei der SPD, den Grünen und der FDP aus. Hier waren klare Visionen erkennbar. Wählerinnen und Wähler wussten ganz klar, wo die Reise hingehen soll. Und das zeigt sich nun auch in den Zahlen.

All das lässt vermuten, dass die Wählerinnen und Wähler tatsächlich auf die Inhalte und die Art und Weise, wie Inhalte transportiert werden, achten.

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