Psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen in Deutschland. Und das nicht erst seit der Pandemie. Trotzdem müssen Menschen, denen es psychisch schlecht geht, die Krankheiten haben, Depressionen oder Panikattacken, lange auf einen Therapieplatz warten. Zu lange. Auf dem Land, wie in der Stadt.
Durch den mit Corona gestiegenen Bedarf hat sich die Lage weiter verschärft. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat deshalb bereits im zweiten Pandemiejahr, 2021, gefordert, langfristig mehr Praxen zuzulassen. Was es dafür braucht: Eine Reform der Bedarfsplanung.
Die letzte Anpassung hat es 2019 gegeben. Es wurde aufgestockt: 800 zusätzliche Therapeuten und Therapeutinnen sollten eine Kassenzulassung bekommen. Zu wenig, meinte damals der Berufsverband der deutschen Psychologinnen und Psychologen. Denn die Anpassung sei trotz allem hinter dem berechneten Bedarf zurückgeblieben – vor allem in ländlichen Regionen führe das zu Problemen.
Zu diesem Schluss kommt auch der rbb nach einer eigenen Datenrecherche. Im Median warteten Städterinnen und Städter acht Wochen auf einen Termin, die Landbevölkerung 24 Wochen. Einige Praxen auf dem Land berichteten laut rbb sogar von neun Monaten und mehr an Wartezeit.
Die neuen Sitze, die 2019 geschaffen worden seien, kämen nun erst in der Versorgung an. Das erklärt Roland Stahl, der Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, auf watson-Anfrage. Deshalb sei abzuwarten, wie sich das Versorgungsgeschehen verändere. Grundsätzlich, meint er, "ist die ambulante psychotherapeutische Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland gut aufgestellt."
Der Psychiater und Psychotherapeut Arno Deister bewertet die Versorgungslage in Deutschland anders. Der Vorsitzende des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit meint im Gespräch mit watson:
Grundsätzlich könne festgehalten werden, dass der Bedarf das Angebot bei weitem übersteige.
Es sei bekannt, dass es in Gebieten mit verhältnismäßig vielen Therapieplätzen zu einer verstärkten Nachfrage kommen könnte, meint der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung. Stahl sagt:
Was den Bedarf außerdem nach oben treibe: junge Menschen. Psychotherapie sei in der jüngeren Generation normal geworden – Stigmata seien abgebaut worden. Es sei deshalb nicht immer einfach sicherzustellen, so Stahl, dass eine psychotherapeutische Behandlung tatsächlich notwendig ist. Für den Psychiater Arno Deister ist klar: Nicht die Menschen, die psychische Behandlung benötigen, sind das Problem, sondern veraltete Bedarfsberechnungen.
Denn die dortigen Zahlen stammten aus einer Zeit, in der der Umgang mit psychischen Erkrankungen noch ein anderer gewesen sei. "Die Schwelle, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, ist deutlich niedriger als früher", sagt er. Besonders problematisch, meint Deister, sei die Lage für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen.
Er sagt:
Um zu klären, wer eine Psychotherapie braucht, gibt es das Erstgespräch beim Hausarzt oder der Hausärztin. Diese schreiben dann eine Überweisung, wenn sie Bedarf sehen. Die Entwicklungen, seit der Einführung dieses Erstgespräches, gingen in die richtige Richtung, meint Stahl von der Kassenärztlichen Vereinigung. Bei der Suche nach einem Termin könnten Patientinnen und Patienten außerdem die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen nutzen.
Das Terminservice- und Versorgungsgesetz ist 2019 in Kraft getreten. Ziel war es, schnellere Arzttermine für Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Aus Sicht der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) wurde dieses Ziel zumindest im Bereich der Psychotherapie verfehlt. Das ist das Ergebnis der Auswertungen der Beratungen im Jahr 2021. Vielmehr sei das Problem durch das Gesetz noch verschärft worden. Denn Krankenkassen lehnten nun zum Teil das Kostenerstattungsverfahren mit der Begründung ab, dass Betroffene sich an die Terminservicestellen hätten wenden können.
Das Problem ist aber: Diese Terminservicestellen können keine dauerhaften Therapieplätze vermitteln, sondern nur Erstberatungen oder Akutbehandlungen. Kostenerstattungsverfahren meint übrigens, dass Krankenkassen unter Umständen auch die Behandlungskosten durch einen nicht zugelassenen Therapeuten übernehmen. Und zwar dann, wenn die Patienten und Patientinnen nachweisen können, dass sie sich lang genug um einen Therapieplatz bemüht haben.
Bemüht haben bedeutet, dass die Betroffenen zur Not eine Praxis nach der anderen abtelefoniert und Absagen bekommen haben. Für Menschen, die in einer psychologischen Krise stecken, ist dieser Aufwand oft kaum zu leisten.
Die Ampelregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, etwas an dem aktuellen Engpass ändern zu wollen. Aus Sicht des Psychiaters Arno Deister gibt es zwei Stellschrauben, an denen angesetzt werden könnte: Mehr Therapieplätze, deren Kosten von den Kassen übernommen werden und Strukturen, die klären, wer schnelle Behandlung braucht und wer ein wenig länger warten kann. Kurz: "Die Kapazitäten müssen also ausgebaut, vor allem aber auch effizienter genutzt werden."
Aus dem Gesundheitsministerium heißt es auf watson-Anfrage, dass Wartezeiten vor allem für Kinder- und Jugendliche sowie im ländlichen Raum reduziert werden sollten. Klar sei außerdem, dass die Kassenärztliche Vereinigung dafür Sorge tragen müsse, dass die vertragspsychotherapeutische Versorgung einschließlich zeitnaher Zugangsmöglichkeiten sichergestellt würden.
Künftig soll die ambulante psychotherapeutische Versorgung weiter verbessert werden – insbesondere für Menschen mit komplexen oder schweren Erkrankungen. Aus dem Ministerium heißt es: "Die Kapazitäten sollen bedarfsgerecht, passgenau und stärker koordiniert ausgebaut werden."
Einen konkreten Zeitplan gebe es bisher aber nicht. Das heißt: So schnell wird sich an der Situation für psychisch Erkrankte und Belastete nichts verbessern.