Beim RTL-Format "Am Tisch mit ..." stellte sich die Kanzlerkandidatin der Grünen Annalena Baerbock den Fragen von sechs Bürgerinnen und Bürgern.Bild: Screenshot / TVNow
Analyse
25.08.2021, 15:1026.08.2021, 14:25
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In den vergangenen Wochen musste sich Annalena Baerbock immer wieder Zähne knirschend für die Fehler rechtfertigen, die sie und ihr Team nach ihrer Nominierung zur Kanzlerkandidatin der Grünen gemacht hatten. Es ging um Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf, die nachgemeldeten Sondereinkünfte als Parteichefin und den Plagiatsvorwurf hinsichtlich ihres kürzlich veröffentlichten Buches.
Umso erleichterter wird die 40-Jährige gewesen sein, dass dieses Thema am Dienstagabend in dem RTL-Format "Am Tisch mit ..." nicht im Fokus Stand. Neben Baerbock nahmen sechs Bürgerinnen und Bürger am Tisch von Moderator Peter Klöppel Platz. Der hielt sich im Lauf der über einstündigen Sendung weitgehend zurück, im Mittelpunkt standen die sechs Gäste.
Eingeladen waren unter anderem der Leiter eines Pflegeheims, eine junge Landwirtin und ein Stahlwerksarbeiter aus Brandenburg. Der bekennt sich gleich zu Beginn zur Klimaneutralität seiner Branche: "Grüner Stahl und CO2-frei, ich bin ja voll dafür." Er wolle aber wissen, was Baerbock tun könne, um angesichts des angestrebten Umbaus der Industrie auch künftig die dort angesiedelten Jobs zu sichern.
Baerbock fordert "Klimazoll" für China
Wenn es nach der Kanzlerkandidatin der Grünen geht, sollen Unternehmen künftig die Möglichkeit haben, Fördermittel für eine Umstellung auf eine nachhaltige Produktion zu beantragen, die sie erst dann zurückzahlen müssen, wenn sie Gewinne machen. Mit Blick auf die Konkurrenz aus China, die den Stahlwerksmitarbeiter besorgt, fordert Baerbock einen "Klimazoll". Das heißt in ihren Worten: "Diejenigen, die keinen klimaneutralen Stahl produzieren oder ihre Unternehmen wie in China unlauter subventionieren, müssen in Zukunft an der Grenze zahlen."
Wo der eine womöglich Sorgen vor zu weitreichenden Klimaschutzmaßnahmen hat, gehen der anderen die Forderungen der Grünen in dieser Hinsicht nicht weit genug. Für eine junge Klimaaktivistin sind einige Punkte im Wahlprogramm der Grünen nämlich zu vage und reichen nicht aus, um das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten.
Deshalb fragt die junge Frau: "Frau Baerbock, was hat bis jetzt gefehlt, um effektiven Klimaschutz zu betreiben und wie soll sich das jetzt ändern?"
Die Grünen-Politikerin verweist auf das "Klimaschutz-Sofortprogramm", das ihre Partei kürzlich vorgestellt hat. Außerdem habe der Kohleausstieg "absolute Priorität". Mit Blick auf mögliche Koalitionsgespräche nach der Bundestagswahl steht für die Kanzlerkandidatin fest: Der Kohleausstieg bis 2030 sei für sie einer der zentralen Faktoren. "Wenn wir nicht auf den 1,5-Grad-Pfad von Paris kommen, dann macht es keinen Sinn für Grüne reinzugehen." Außerdem müsse der Ausbau der Windkraft weiter gefördert werden.
Alleinerziehende Mutter sorgt für emotionalen Moment bei RTL
Doch Baerbock muss sich nicht nur Fragen zum Klimaschutz stellen. Eine alleinerziehende Mutter, die sich mit einem Nagelstudio selbstständig gemacht hat, aber wegen der Corona-Pandemie neun Monate nicht arbeiten konnte, fragt die Kanzlerkandidatin:
"Was wollen Sie dafür tun, dass Frauen, die sich trennen, keine mehr Angst haben müssen, in die Armut abzurutschen?"
"Das bewegt mich total. Ich erlebe das auch in meinem Umfeld", sagt Baerbock. Es gebe viele junge Mütter, die die Frage umtreibe, was nach Ende des Mutterschutzes mit ihrem Arbeitsplatz sei. Deshalb fordert sie ein besseres Rückkehrrecht zum Arbeitsplatz: Arbeitnehmerinnen sollen das Recht haben, an der gleichen Stelle Vollzeit wieder arbeiten zu dürfen.
Aufgabe der nächsten Bundesregierung müsse auch ein Ausbau der Kita-Plätze sein sowie die Einführung einer Kindergrundsicherung und die Aufstockung der Hartz-IV-Regelsätze. Aber wie solle man das alles finanzieren, fragt eine Frau, die durch einen Arbeitsunfall zur Frührentnerin wurde.
"Wir müssen, wenn wir Menschen mit einem kleinen, geringen Einkommen entlasten wollen, für Spitzenverdiener höhere Steuer erheben", antwortet Baerbock. Sie will den Spitzensteuersatz anheben und die Vermögenssteuer wieder einführen. Die Frührentnerin wirkt davon nicht überzeugt: "Ich denke, dann wird eine Abwanderung stattfinden, die Reichen werden sich irgendwas anderes suchen."
Doch es könne kein "Weiter so" geben, betont die Kanzlerkandidatin der Grünen. So auch nicht in der Pflege: "Wir müssen Löhne so bezahlen, dass man eine Familie davon ernähren kann", sagt Baerbock. Außerdem brauche es bessere Arbeitsbedingungen vor Ort, es müssten mehr Fachkräfte eingestellt werden.
Der anwesende Pflegeheimleiter merkt an, dass er zum Thema stationäre Pflege lediglich einen Satz im Wahlprogramm der Grünen gefunden hätte. Es dürfe nicht nur bei Lippenbekenntnissen bleiben, fordert er.
Baerbock zeigt sich selbstkritisch
Zum Schluss kommt die grüne Kanzlerkandidatin nicht darum herum, sich noch einmal zu ihren persönlichen Verfehlungen zu äußern. Peter Klöppel konfrontiert sie anhand einer Grafik mit ihren abgesackten Zustimmungswerten: Nur noch 15 Prozent würden der Grünen-Politikerin bei einer Direktwahl der Kanzlerin oder des Kanzlers ihre Stimme geben, nach Baerbocks Nominierung im April waren es mehr als doppelt so viel gewesen.
"Natürlich lässt mich das nicht kalt", gibt Baerbock zu. Die eigenen Fehler würden sie ärgern, aber sie reflektiere auch, was sie in Zukunft besser machen könne. An dieser Stelle übt sie aufrichtig Selbstkritik und fragt, ob sie tatsächlich ein Buch hätte schreiben müssen. Im Gegensatz zu anderen Formate nimmt die Diskussion um sinkende Umfragewerte und persönliche Fehler insgesamt nur wenig Platz ein, rund zehn Minuten einer über einstündigen Sendung.
Im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern wirkte Baerbock deutlich lockerer als noch im ARD-Sommerinterview vor wenigen Tagen. Mit einem übermäßig positiven Gefühl wird sie aber wohl auch aus dieser Sendung nicht gegangen sein. Als Klöppel die sechs Gesprächsteilnehmenden zum Abschluss fragt, wen Baerbock zumindest zum Teil überzeugen konnte hebt nur die Hälfte zaghaft die Hand.
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