Zurück in den Krieg: So werden russische Soldaten im System festgehalten
Am 20. September 2022, einen Tag vor der offiziellen Ankündigung der Mobilmachung, zog die Staatsduma die rechtlichen Zügel an: höhere Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für Desertion, eigenmächtiges Entfernen von der Einheit und Befehlsverweigerung. Diese Entscheidung war ein gezieltes Signal – an die Soldaten, an ihre Kommandeure und an ihre Familien. Niemand sollte es wagen, sich dem russischen Kriegsdienst zu entziehen.
Und doch wagen es immer wieder Menschen. "Verstka" berichtet von Recherchen auf Grundlage geleakter Namenslisten, die belegen, dass zwischen Herbst 2022 und Sommer 2024 mindestens 49.000 Soldaten desertierten. Die ukrainische Osint-Community Frontelligence Insight soll demnach auf ähnliche Zahlen gekommen sein: Bis zum 15. Dezember 2024 sollen es knapp über 50.000 gewesen sein.
Doch hinter jeder Zahl in diesen Statistiken steht eine eigene Geschichte. Für manche von ihnen folgte nach der Desertion erst Haft und schließlich doch eine Rückkehr an die Front, gegen den eigenen Willen.
Russischer Deserteur ging nach Haft wieder an die Front
Das Schicksal von Viktor aus der Region Moskau verdeutlicht, wie komplex und tragisch solche Fälle verlaufen können. Er unterschrieb im Sommer 2023 einen Militärvertrag, wurde wenige Monate später an beiden Oberschenkeln durch Splitter verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert. Wegen Alkoholkonsums holte ihn die Militärpolizei heraus und hielt ihn über Nacht fest.
"Am Morgen haben sie ihn freigelassen, aber das Krankenhaus hat ihn nicht mehr aufgenommen", erzählt Viktors Ehefrau Jekaterina "Verstka". "Ich bin nach Astrachan gefahren, um ihn abzuholen, weil er sich nicht selbst fortbewegen konnte: Die Wunde war eitrig, und er war auf Krücken."
Zu Hause angekommen, verschlechterte sich sein Zustand jedoch dramatisch. Jekaterina berichtet:
Laut ihr unternahm Viktor nichts, um seinen Status als Deserteur zu vermeiden. Schließlich brachte Jekaterina die ärztlichen Unterlagen selbst zum Militärkommissariat, um einer Strafe zu umgehen. "Als er das Geld für die Verwundung bekam, ist er völlig durchgedreht: verteilte es nach Belieben und warf es mir ständig vor. Er fing an, die Hand gegen mich zu erheben. Das ging elf Monate lang so."
Nach knapp einem halben Jahr voller Soldzahlungen, obwohl er nicht mehr im Dienst war, brachte sie ihn schließlich zur Militärkommandantur, weil sie die Gewalt nicht mehr aushielt. Dort leitete man ein Strafverfahren wegen eigenmächtigen Verlassens der Einheit ein. Im Dezember 2024 erhielt er fünf Jahre Haft in einer Strafkolonie – ging jedoch von dort erneut an die Front.
"Als ich ihn im Gefängnis besuchte, bat ich ihn, keinen Vertrag zu unterschreiben", erzählt Jekaterina. Am 31. Mai erhielt sie trotzdem den Anruf: Viktor würde am nächsten Tag zum Sondereinsatz aufbrechen. Sie erzählt:
"Ich verstehe ihn bis heute nicht", erklärt sie. Seitdem sucht Jekaterina in Online-Chats nach Hinweisen, ob er unter den Gefallenen ist.
Ukraine-Krieg: Exempel gegen russischen Deserteur
Auch Pjotr aus Jekaterinburg kehrte nach einer Haftstrafe zurück an die Front. Nach seiner Mobilisierung im Herbst 2022 kämpfte er in Cherson und Donezk, bis eine chronische Krankheit ihn zwang, sich zu Hause behandeln zu lassen.
"Er informierte seinen Kommandeur, fuhr regelmäßig zur Meldung in die Einheit, war erreichbar und versteckte sich nicht. Und dann stellte sich heraus, dass er als Deserteur gemeldet worden war. Dokumente verschwanden, ebenso wie Menschen, Bescheinigungen und so weiter", sagte seine Frau Marina.
Das Paar glaubte an eine Bewährungsstrafe, doch im Sommer 2023 bekam Pjotr eine Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren. Marina vermutet ein Exempel, "damit andere Angst bekommen".
Nach einem Jahr in Haft unterschrieb er erneut. Auch Pjotr fiel kurz nach seiner Rückkehr an der Front. Marina erklärt laut "Verstka":
Russland: Deserteure werden gewaltsam an die Front geschickt
Diese Schicksale sind keine Ausnahmen, sondern haben System. Seit Frühjahr 2024 erreichen russische Menschenrechtsorganisationen zunehmend Berichte, dass geflohene Soldaten ohne Gerichtsverfahren gewaltsam zurück in die Kampfzone gebracht werden.
Iwan Tschuwiljajew vom Projekt "Geht in den Wald!" beschreibt den Zweck dieser Praxis gegenüber "Verstka" so: "Der Sinn besteht darin, dass der Mensch aus diesem Fleischwolf nicht herauskommt, sondern dort bis zu seinen letzten Tagen bleibt."
Die Arbeit der Aktivisten hat sich verändert: Sie helfen Soldaten inzwischen gezielt dabei, eine tatsächliche Haftstrafe zu erhalten, statt in eine Strafkolonie geschickt zu werden und dann sofort weiter an die Front.