Es war eine Machtdemonstration in der Berliner Sommerhitze. Ende August kletterten mehrere hundert Menschen während der einer der größten samstäglichen Corona-Demonstrationen über die Absperrungen vor dem Reichstagsgebäude. Dann stürmten die Gegner der Corona-Maßnahmen von Bundes- und Landesregierungen auf den Bundestag zu, auf die gewählte Vertretung aller Deutschen, einige von ihnen schwenkten schwarz-weiß-rote Reichsflaggen.
Die Bewegung, so schien es, war mächtig wie nie.
Jetzt, rund drei Monate später, sind die Gegner der Corona-Maßnahmen auf dem Weg, sich zu zerlegen. Es gibt Zerfallserscheinungen an mehreren Ecken, von den "Querdenkern" rund um den Stuttgarter Michael Ballweg bis zu Attila Hildmann, dem veganen Koch und Betreiber eines der populärsten deutschen Verschwörungsschwurbel-Channels auf der Messenger-Plattform Telegram.
Michael Ballweg ist seit Monaten das bekannteste Gesicht der "Querdenker": der Bewegung also, die seit dem Frühjahr Demonstrationen gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern organisiert. Ausgangspunkt der Bewegung ist Baden-Württemberg, weshalb sie sich selbst "Querdenken 711" nennt – mit Verweis auf 0711, die Festnetz-Telefonvorwahl von Stuttgart.
Vordergründig geben sich Ballweg und die "Querdenker" als verfassungstreue Vollblutdemokraten: Auf der Startseite der Website der Bewegung ist das Titelblatt des Grundgesetzes abgebildet, darunter steht, in der Bewegung habe "rechtsextremes, linksextremes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut" keinen Platz.
Die Botschaft: Man will die freiheitliche Demokratie verteidigen, weil Maßnahmen wie Maskenpflicht und Quarantäneregeln ein Angriff darauf seien. Und: Mit Demokratiefeinden will man angeblich nichts zu tun haben.
Entsprechend sanftmütig gibt sich Ballweg auch bei öffentlichen Auftritten. Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb neulich über ihn: "Würde der Prototyp des netten Kumpeltyps unter den Verschwörungsmystikern gesucht, die Wahl fiele auf den 46-Jährigen."
Ballweg versuchte sogar, auf seiner Bekanntheit aufzubauen, um Oberbürgermeister von Stuttgart zu werden. Im ersten Wahldurchgang holte er nur 2,6 Prozent der Stimmen, im zweiten sogar nur noch 1,2 Prozent. Inzwischen hat Ballweg aber noch ganz andere Probleme.
Das hat damit zu tun, dass – trotz der Treueschwüre auf das Grundgesetz – auf den von "Querdenken 711" organisierten Demos der Abstand zu Rechtsradikalen oft ziemlich klein ist. Auf Großdemos wie im August in Berlin wurden an vielen Ecken Banner der Q-Anon-Verschwörungsbewegung geschwenkt, Rechtsextremisten mit einschlägigen Tattoos marschierten mit. Und es waren schwarz-weiß-rote Reichsflaggen zu sehen, zu Dutzenden.
Bei der großen Corona-Demo Ende August in Berlin versammelten sich Hunderte Demonstranten vor der russischen Botschaft, um einen "Friedensvertrag" mit Russland zu fordern – und forderten den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf, sie dabei zu unterstützen, die "Sklaverei" zu beenden.
Diese Demonstranten standen offenbar der "Reichsbürger"-Bewegung nahe, die einem kruden Verschwörungsmythos folgt: dass nämlich die Bundesrepublik Deutschland kein Staat, sondern eine Firma sei. Und dass das Deutsche Reich, das 1945 mit dem Ende der Nazi-Barbarei untergegangen ist, weiterbestehe. Dieser Mythos ist zwar so substanzlos wie die Behauptung, dass 1860 München im Jahr 2020 die Fußball-Champions-League gewonnen hat – aber er ist gefährlich. 2016 tötete ein bekannter "Reichsbürger" in Georgensgmünd in der Nähe von Nürnberg einen Polizisten.
Der "nette Kumpeltyp" Ballweg traf sich vor Kurzem mit einem der prominentesten Vertreter der "Reichsbürger"-Szene: mit Peter Fitzek. Fitzek wurde 2017 zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er eine eigene Krankenversicherung gegründet und damit Geschäfte gemacht hatte – und mehrfach ohne Führerschein unterwegs war. Auf dem Gelände einer früheren Klinik in Wittenberg hatte Fitzek 2012 das "Königreich Deutschland" ausgerufen. Er lässt sich als "Königliche Hoheit" bezeichnen und will nach eigenen Angaben das Deutsche Reich "wieder handlungsfähig machen" und in den Grenzen von 1937 "wiederherstellen".
Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) berichtet, sollen Ballweg und mehrere Mitstreiter sich am 15. September mit Fitzek getroffen haben. In einer vertraulichen Einladung zu dem Treffen schrieb Ballweg demnach, man wolle sich nach "neuen Möglichkeiten und anderen Strategien umsehen", und habe "einen Lichtblick gefunden".
Das Treffen mit dem Reichsbürger Fitzek hat für erheblichen Streit unter der "Querdenkern" gesorgt. "Querdenken 711" hat deshalb eine Presserklärung verschickt, in der wörtlich steht:
Mit dem Treffen hat es sich Ballweg aber trotzdem offenbar mit zwei bekannten Figuren aus der "Querdenker"-Bewegung verscherzt.
Eine davon ist "Querdenken"-Pressesprecher Stephan Bergmann, der nach Medienberichten selbst rechtsradikalen Bewegungen nahesteht und Reichsbürger-nahe Positionen geäußert hat. Er hat in einem halbstündigen Youtube-Video seinen "Querdenken"-Ausstieg erklärt. Es habe ihm dort "keine Freude mehr gemacht", Querdenken sei als "pyramidisches System" aufgebaut, Ballweg verhalte sich "diktatorisch.
Von der Bewegung hat sich auch Christian Kreiß verabschiedet, Professor der Volkswirtschaftslehre aus dem schwäbischen Aalen. Kreiß war mehrfach auf "Querdenken"-Demos aufgetreten und hatte dort gesprochen. Nachdem er von Ballwegs Treffen mit dem "Reichsbürger" Fitzek erfahren hatte, schrieb Kreiß einen Beitrag für das Portal "Telepolis", in dem er unter anderem schreibt:
Mit Bestrebungen wie der, die Nähe zu Reichsbürgern zu suchen, wolle er nichts zu tun haben. Und: "Querdenken ist für mich jetzt tot".
Den wohl bizarrsten Kleinkrieg innerhalb der Corona-Demo-Szene führt derzeit aber Attila Hildmann.
Der Autor veganer Kochbücher teilt auf seinem Telegram-Channel mit gut 119.000 Abonnenten nicht nur ständig neue Nachrichten über die große Weltverschwörung, die er entdeckt zu haben glaubt, und Werbebotschaften für sein Berliner Lokal. Hildmann verteilt regelmäßig auch heftige Seitenhiebe gegen "Querdenken"-Chef Ballweg und andere regelmäßige Redner auf Corona-Demos wie den Arzt Bodo Schiffmann und den rechtsradikalen Autor Oliver Janich. "Du kleiner Verräter Ballweg" ist noch eine vergleichsweise zärtliche Nachricht.
Der Zwist beginnt schon im August, noch vor der Demo Ende August, bei der hunderte Corona-Demonstranten auf die Treppe des Reichstagsgebäudes gestürmt waren. Hildmann warf damals Ballweg und anderen regelmäßig vor, in die Bewegung eingeschleuste Agenten der Bundesregierung zu sein. Die gesamte Auseinandersetzung zwischen Hildmann, Ballweg und anderen hat der Blog "Volksverpetzer" in einem Artikel zusammengefasst – unter dem Titel "Verschwörungsbeef".
Der bizarre Höhepunkt: Anfang September veröffentlichte das Satire-Portal "Der Postillon" einen Artikel, in dem stand, Hildmann werde von Bundeskanzlerin Angela Merkel bezahlt, um die "Querdenker"-Bewegung lächerlich zu machen. "Querdenken 711" teilte daraufhin den"Postillon"-Artikel im eigenen Telegram-Channel – woraufhin Hildmann massenhaft Zuschriften wütender Menschen bekam, die ihm Verrat vorwerfen. Hildmann wiederum versuchte daraufhin auf seinem Telegram-Channel zu erklären, dass "Der Postillon" eben eine Satire-Seite ist – kein Nachrichtenportal.
Dass die Szene um die Corona-Demonstranten zersplittert, hat im Gespräch mit watson auch Michael Blume erklärt. Blume ist Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg. Er forscht und veröffentlicht seit Jahren zu Verschwörungsmythen und den Szenen, in denen sie verbreitet werden. Er denke, "dass die Bewegung weiter zersplittern wird", sagte Blume und ergänzte: "Wir werden da psychische Ausnahmezustände erleben."
Auch Verfassungsschützer blicken inzwischen strenger auf die Bewegungen rund um die Corona-Demos. Zu den "Querdenkern" zitiert die "FAZ" das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz mit der Einschätzung, dass "unter den Organisatoren der Querdenken-Veranstaltungen wie auch im näheren Umfeld der Initiative" derzeit "Extremisten" tätig seien. Im Frühjahr war die Bewertung noch deutlich milder ausgefallen.
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels stand über Michael Ballwegs OB-Kandidatur in Stuttgart, er habe im ersten Wahlgang zu wenige Stimmen erhalten, um sich die Stichwahl zu erreichen. Das war falsch. In Stuttgart gab es keine Stichwahl, Ballweg trat auch im zweiten Wahlgang an.
Bei Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg gibt es – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – keine Stichwahl mit den erfolgreichsten beiden Kandidaten. Stattdessen findet ein zweiter Wahlgang statt, bei dem der Kandidat mit der relativen Mehrheit der Stimmen gewinnt.