Gil Ofarim bleibt dabei: Er sei aufgrund seiner Davidstern-Kette im Leipziger Westin Hotel antisemitisch diskriminiert worden. Am Sonntag hatte die "Bild"-Zeitung Aufnahmen einer Überwachungskamera veröffentlicht, auf denen der Sänger in der Lobby des Hotels zu sehen ist – eine Kette ist allerdings nicht zu erkennen.
Seitdem ist aus der Debatte um Antisemitismus eine Diskussion um seine Glaubwürdigkeit geworden. Und um den Umgang von Medien, Politik und Öffentlichkeit mit ungeprüften Informationen.
Ofarim hatte am 5. Oktober ein Video veröffentlicht, in dem er einem Mitarbeiter des Hotels und einem weiteren Anwesenden judenfeindliche Diskriminierung vorwarf. Neben zahlreichen Solidaritäts-Bekundungen sprach auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes öffentlich von einem "unfassbare(n) Fall von Antisemitismus" und forderte Konsequenzen. Viele Medien berichteten, darunter auch watson.
Am Montag veröffentlichte die "Bild" ein Interview mit dem Sänger, in dem dieser seine Version bekräftigt und den Vorwurf der Täuschung zurückweist. Auf Anfrage von watson gab der Sänger folgendes Statement ab: "Ich habe meine Kette angehabt – wie immer. Ich trage sie auch in den sozialen Netzwerken oder bei Auftritten, deshalb wurde ich angefeindet. Ich war zuvor an dem Tag bei einer Fernsehproduktion, bei der ich sie getragen habe. Diese Bilder/die Ausstrahlung werden auch noch kommen."
Weiterhin bestritt Ofarim den Vorwurf, er habe sich die Kette erst umgehangen, als er sein Instagram-Video gedreht hat: "Ich bitte – bei allem Respekt – darum, in diesem Video aus oder vor dem Hotel den Zeitpunkt zu zeigen, an dem ich meine Kette aus der Tasche oder meinem Koffer gekramt und über den Kopf gezogen haben soll, bevor ich das Video gemacht habe." Denn diesen Zeitpunkt gebe es nicht. "Ich kann nochmal zu hundert Prozent sagen, dass ich die Kette die ganze Zeit um den Hals getragen habe", heißt es von ihm schließlich.
Dennoch: Seitdem die Video-Bilder in der Welt sind, herrscht bei vielen Irritation.
Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA), sagte watson am Montag, man wolle nun keine voreiligen Schlüsse ziehen. Opfer antisemitischer Gewalt erlebten Angriffe oft in Momenten wo sie allein seien und es keine Zeugen gebe. "Im vorliegenden Fall ist das anders. Daher warten wir Untersuchungsergebnisse und weitere Informationen ab."
Sollten die Behauptungen falsch sein, ändere dies nichts am enormen Antisemitismus-Problem in Deutschland. "Im journalistischen Handwerk wird von uns erwartet, unsere Quellen zu prüfen, beziehungsweise mindestens zwei verifizierte Quellen zu haben", sagt Salomon weiter. Dies sei aus den beschriebenen Gründen nicht immer möglich.
"Daher gilt unser Grundsatz als JFDA, den Opfern erstmal parteilich zur Seite zu stehen. Auch ein möglicherweise negativer Fall wie der vorliegende wird uns nicht von unserem Kurs abbringen, unsere Solidarität auszudrücken und Betroffenen von Antisemitismus unsere unverzügliche Unterstützung und Hilfe anzubieten." Der Verein mit Sitz in Berlin hatte das Leipziger Westin Hotel Anfang Oktober ebenfalls kritisiert.
In den Sozialen Netzwerken hat seitdem auch eine Debatte über die Rolle der Medien begonnen. Diese hätten oft ungeprüft die Darstellung von Gil Ofarim übernommen, statt diese kritisch zu hinterfragen, lautet ein Vorwurf.
Der Medienwissenschaftler und Politologe Oren Osterer sagt auf Anfrage von watson: "Ich verstehe die Problematik. Allerdings hätte es schon vorher viele Anlässe gegeben, die zulasten von Juden, geschweige denn zulasten von Israel fallen. Und bei denen auch nicht so genau hingeguckt wurde."
Eine große Tageszeitung habe zum Beispiel über rassistische Vorfälle beim Fußball berichtet und diese als Fakten dargestellt. Bei antisemitischen Fällen sei der Verfasser dann aber im Konjunktiv geblieben und habe so deren Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. "Ich finde ich es scheinheilig, ausgerechnet bei diesem Fall eine Debatte über saubere Medienrecherche zu beginnen."
Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung in Baden-Württemberg, sagt watson: "Schlimm wäre es, wenn sich Opfer antisemitischer und rassistischer Übergriffe in Zukunft nicht mehr trauen würden, sich Unterstützung zu holen und Anzeige zu erstatten."
Bei Berichten über antisemitische Vorfälle solle man drei Dinge beachten. Erstens, den Betroffenen Solidarität ausdrücken und unterstützen. Zweitens die Ermittlungen abwarten, drittens Vorurteilen und Ferndiagnosen widerstehen: "Die Realität erweist sich oft als viel komplexer."
Auch heute wisse man nicht, was tatsächlich in Leipzig passiert sei. Angesichts vieler Berichte über Diskriminierung wirke es wie eine schnelle Entlastung, "wiederum vorschnell ins Netz zu brüllen: 'Die lügen doch alle!' Aber das stimmt natürlich nicht". Es sei gut, dass hier die Gewaltenteilung funktioniert habe.
Das Hotel war am Montag für eine kurzfristige Stellungnahme nicht zu erreichen.