Wehrdienst-Lotterie: Deutsche "Hunger Games"? CDU und SPD wiederholen Fehler
"Wir haben die Pressekonferenz abgesagt, weil die beabsichtigte Einigung ausgeblieben ist." Es war überraschend, wie ein Unionssprecher am Dienstagabend sein kurzes Statement eingeleitet hat. Die angekündigte Wehrdienst-Einigung von Union und SPD, sie sollte entgegen eigener Ankündigungen nicht zustande kommen.
Boris Pistorius bezeichnete die Los-Idee im Nachgang als "faulen Kompromiss", CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen warf dem Verteidigungsminister wiederum vor, den Gesetzgebungsprozess "destruktiv" zu "torpedieren". Wer als Bundesregierung so handelt, darf sich über den Begriff "Krise" nicht beschweren und sich dem Vergleich mit der streitsüchtigen Ampelregierung nicht entziehen.
Auch die von Kanzler Friedrich Merz und seinem Stellvertreter, SPD-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil, noch vor Tagen eingeforderte gute Laune in der Bevölkerung entsteht so sicher nicht.
Wehrdienst-Lotterie: Die Meme-Reaktionen sind erwartbar
Doch was ist schon eine abgesagte Pressekonferenz gegen einen viel größeren Fehler, der so vielleicht verhindert wurde: Eine Lotterie soll junge Menschen im äußersten Fall zum Wehrdienst verpflichten – echt jetzt? Wer den Shitstorm und die "Deutsche Hunger Games"-Memes da nicht kommen sieht, beweist erneut, keine Ahnung von und kein Interesse an jungen Menschen zu haben.
Schon im Sommer wurde die Frage diskutiert: Was, wenn der vor wenigen Wochen beschlossene Wehrdienst nicht genug Menschen anzieht? Männliche Volljährige ab dem Jahrgang 2008 sollen ab dem 1. Juli 2027 verpflichtend ärztlich gemustert werden, jedoch weiterhin ausschließlich freiwillig den Dienst antreten.
Eine in der Bundesregierung diskutierte Antwort wurde dann am Wochenende erstmals öffentlich kommuniziert. Die bereits erwähnte Lotterie soll die Antwort sein: Falls das freiwillige Modell, das vor allem Verteidigungsminister Pistorius stets anpries, nicht genügend junge Menschen zur Bundeswehr bringt, sollten weitere Wehrdienst-Absolventen per Losverfahren ermittelt werden.
Doch würden Leute trotz des im Grundgesetz feststehenden Kriegsdienstverweigerungsrechts wirklich gezwungen werden, ihren Dienst zu absolvieren? Und im schlimmsten Fall eines russischen Angriffes möglicherweise sogar auf dem Schlachtfeld landen, während andere in der Lotterie mehr Glück hatten?
In Windeseile mehrten sich auf Social Media empörte Meinungen junger Menschen – und selbstverständlich verbreiteten sich Memes. Von den deutschen "Hunger Games" in Anlehnung an die Buch- und Filmreihe "Die Tribute von Panem" war die Rede. Linken-Fraktionschef Sören Pellmann nahm diesen Vergleich dankend auf, Grünen-Politiker Timon Dzienus teilte ebenfalls Memes mit dem Gesicht von Friedrich Merz in Szenen der Panem-Verfilmung.
Wie angebracht diese Vergleiche sind, ist anzuzweifeln und abhängig von den ausstehenden Details, die auf der Pressekonferenz hätten verraten werden sollen. Doch ob angebracht oder nicht, ist zweitrangig. Sie waren schlicht erwartbar – und haben einen ernstzunehmenden Hintergrund.
Union ignoriert mit Lotterie-Idee erneut junge Menschen
Seit Jahren haben junge Menschen zunehmend das Gefühl, dass die Bundesregierungen – einige mehr als andere – über ihre Köpfe hinweg ihre Zukunft bestimmen (und verbaseln).
Klimakrise, Corona, Wohnungsnot, Rente, Investitionsstau, Transformation der Wirtschaft – und nun auch Krieg und der Kampf um Leben oder Tod. All das führt zu Angst und Zukunftsmüdigkeit, zu Frust über fehlende Selbstwirksamkeit in der Demokratie – und zu jeder Menge sarkastischer Memes.
Wer das versteht, für den ist es selbstverständlich, dass bei derlei Ideen Bilder einer Pop-Dystopie in den Köpfen junger Menschen erzeugt werden, die zunehmend Realität wird. Doch, und das ist schon lange der Fehler vieler Bundesregierungen und in diesem Fall vor allem der Union: Die meisten mächtigen Politiker:innen der vergangenen Jahre verstehen junge Menschen eben schon lange nicht mehr.
Wenn die Bundesregierung über die Köpfe junger Menschen hinweg über ihr Leib und Leben entscheiden will und das mithilfe einer Lotterie: Was erwartet sie dann für Reaktionen? Entweder sie war darauf nicht vorbereitet – oder es interessiert sie nicht.
Wehrdienst-Lotterie: Dann doch lieber die alte Wehrpflicht
Oder aber die verantwortlichen Fachpolitiker:innen in den Fraktionen von Union und SPD haben die Frage, ob es eine bessere und fairere Lösung für das personelle Bundeswehr-Problem gibt, mit Nein beantwortet.
Ist die in den Unions-Plänen vorgesehene Wehrdienst-Lotterie als letzter Schritt in einem mehrstufigen Prozess nicht recht zurückhaltend? Eine Wehrpflicht light? Im Gegenteil, die Los-Idee ist schlimmer.
Das Grundgesetz (Art. 4 Abs. 3) schützt die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe. Eine Zwangsverpflichtung zum bewaffneten Dienst wäre also nicht möglich, andere Dienste müssten gesondert geregelt werden.
Früher mussten (fast) alle wehrdiensttauglichen Männer irgendeinen Dienst an der Gesellschaft leisten, entweder bei der Bundeswehr oder eben in sozialen oder anderen zivilen Einrichtungen. Klar, das war alles unterbezahlt, aber dennoch gab es eine gewisse Fairness: Alle Geeigneten wurden verpflichtet, alle durften sich entscheiden. Ob diese Wahlmöglichkeit in dem Los-Modell vorgesehen ist beziehungsweise gewesen wäre (der Ausgang des Streits ist offen), ist unbekannt.
Der Zivildienst als Ausweichmöglichkeit war der perfekte Weg, um gleichzeitig gleiche Verhältnisse herzustellen, niemanden zum Wehrdienst zu zwingen, die Werte und den Charakter junger Menschen gesellschaftsrelevant zu bereichern und nebenbei den Sozial- und Gesundheitssektor personell besser auszustatten.
Daher täten die Unions-Politiker:innen gut daran, den nun als stur verrufenen Verteidigungsminister Pistorius anzuhören und die Idee einer Lotterie zu begraben. Es wird beim Thema Wehrdienst und Verteidigung gegen Russland genug schmerzhafte Kompromisse geben – auf einen "faulen Kompromiss", von dem der SPD-Mann jetzt spricht, sollte sie tunlichst verzichten.