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TV-Doku über Angela Merkel "Im Lauf der Zeit" legt Fährten zur Altkanzlerin

ARD/MDR ANGELA MERKEL - IM LAUF DER ZEIT, "Film von Torsten Körner", am Sonntag (27.02.22) um 21:45 Uhr im ERSTEN und schon ab 25.02.2022, 21:45 Uhr in der ARD-Mediathek.
Angela Merkel beim  ...
Angela Merkel während des Interviews, das sie für die Dokumentation gegeben hat. Bild: MDR/HA Kommunikation
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"Angela Merkel – im Lauf der Zeit": Fährten, um die Ex-Kanzlerin zu verstehen

In einem Dokumentarfilm mit schnellen Schnitten und ohne Stimme aus dem Off zeichnet Regisseur Torsten Körner nach, wie die unterschätzte Frau aus dem Osten zur mächtigsten Frau der Welt wurde. Und er legt Fährten, um ihr Wesen zu verstehen.
23.02.2022, 11:42
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In diesem Film läuft die Zeit nicht nur, manchmal macht sie gigantische Sprünge.

Erst sitzt eine junge Angela Merkel da, knallrote Strickjacke vor schwarzer TV-Studio-Wand. Ihre Lippen sind leicht nach oben gebogen und dunkelrot geschminkt. Merkel hat den Blick zur Seite gewendet. Sie hört einen Mann sprechen, den Interviewer, der sich gerade in Fahrt redet für seine erste Frage: Sie sei doch noch nicht einmal zwei Jahre in der Politik, ein Jahr in der CDU, jetzt schon Bundesministerin und bald auch Vizechefin der Partei hinter Helmut Kohl.

Es ist Oktober 1991, der Interviewer heißt Günter Gaus, damals eine lebende Legende des Fernsehjournalismus. Gaus hat in den 1960ern, in der alten Bundesrepublik, die West-Elite interviewt: Willy Brandt und Franz Josef Strauß, Helmut Kohl und Hannah Arendt. Jetzt sitzt diese Frau aus dem Osten bei ihm im Studio, die es ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung in die erste Reihe der Politik geschafft hat – die aber kaum jemand kennt.

Angela Merkel im Interview mit Günter Gaus (1991)
Angela Merkel 1991 im Fernseh-Interview mit Günter Gaus.bild: screenshot youtube

Gaus lässt seine Frage los auf Angela Merkel, damals 37 Jahre alt: "Geht das nicht alles ein bisschen schnell für Sie?"

Schnitt.

Merkel, 67, beim Zapfenstreich zu ihrem Abschied im Dezember 2021, mit tränenfeuchten Augen, schwarzer Mantel vor schwarzem Abendhimmel.

Anfang und Ende einer Ära, in wenige Sekunden gepackt.

Krisenkanzlerin: Stärke und Versagen, in Bildern erzählt

"Angela Merkel – Im Lauf der Zeit" so heißt die Doku, mit der Regisseur Torsten Körner sich daran versucht, das politische Leben der mächtigsten Frau der deutschen Nachkriegsgeschichte in anderthalb Stunden zu packen. Produziert hat ihn Broadview Pictures. Seit dieser Woche ist er in der ARTE-Mediathek zu sehen, am Dienstag, dem 22. Februar, wird sie dort ab 20.15 Uhr im linearen Programm zu sehen sein – und am Sonntag danach im Ersten (21.45 Uhr).

Der Trailer des Doku-Films. Video: YouTube/BroadviewPictures

Der Film ist unterteilt in neun Kapitel. Es geht, natürlich, um Merkels Kanzlerschaft, die 16 Jahre von 2005 bis 2021. Darum, wie Merkel Deutschlands Regierung in der Finanz- und der Eurokrise geführt hat, durch die Monate ab dem August 2015, die viele "Flüchtlingskrise" nennen und andere "Verwaltungskrise". Und es geht um die Corona-Seuche, diese riesige dunkle Wolke über Merkels letzten Monaten im Amt.

Körner zeigt die unvermeidlichen Merkel-Symbolbilder dieser Krisen: ihre Rede im Oktober 2008, wenige Tage nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers und dem weltweiten Börsencrash. Merkel, neben dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück, sagt den Deutschen, dass ihr erspartes Geld sicher sei. Steinbrück, für die Doku interviewt, kommentiert kurz darauf: "Wir hatten kein Mandat".

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Merkel im September 2015, bei der Aufnahme eines Selfies mit einem Geflüchteten in einem Aufnahmelager in Berlin.bild: dpa/Bernd von Jutrczenka

Es sind die Bilder aus dem Spätsommer 2015 zu sehen: Geflüchtete am Bahnhof Budapest-Keleti, zu Fuß auf der Autobahn Richtung Österreich, aus dem Zug steigend am Münchner Hauptbahnhof. Merkel, die diesen einen Satz sagt, zu dem es einen eigenen Wikipedia-Eintrag gibt.

Und es ist ihre Fernsehansprache aus dem März 2020 zu sehen, als das Coronavirus gerade Deutschland erwischt hat.

So weit, so vorhersehbar.

Sehenswert wird die Doku in diesem Abschnitt durch die Menschen, die diese Krisenmomente im Rückblick kommentieren. Es kommentiert Angela Merkel selbst, die sich nach Angaben der Produktionsfirma zwei Tage vor der Vereidigung ihres Nachfolgers Olaf Scholz Zeit genommen hat für zwei lange Interviews. "Ich habe sehr darauf geschaut, mir Zeit zu nehmen", sagt Merkel in die Kamera, "gerade bei wichtigen und grundlegenden Entscheidungen".

Ungelöste Probleme: Flucht und Elendsmigration

Die Virologin Melanie Brinkmann bestätigt das, indem sie von einem dringenden wie kuriosen Telefonat mit Merkel spricht – und davon, wie ein Zugschaffner es unterbrach. Eine der spannendsten Kommentatorinnen ist Carla, 16-jährige Schülerin, geboren 2005, im Jahr von Merkels erster Vereidigung als Bundeskanzlerin. Es sei eine Sicherheit gewesen, dass Merkel Kanzlerin war, meint sie.

Wer in diesem Dokumentarfilm nicht direkt kommentiert: die Autoren. Damit hebt sich der Film angenehm ab von den vielen Dokus aus der Ich-Perspektive, in denen sich Journalistinnen, Youtuber, Influencer sichtbar zu wichtig nehmen. In "Angela Merkel – Im Lauf der Zeit" lässt Regisseur Körner die Bilder sprechen, Merkel selbst, Wegbegleiterinnen und Kritiker.

Die Doku durchzieht ein grundsätzlich menschlich-warmer Blick auf Merkel. Das ist wenig verwunderlich: Torsten Körner hat schon 2016 einen Film über die Kanzlerin veröffentlicht ("Die Unerwartete"), Ende 2021 ist ein Buch von ihm erschienen, das ihr Leben in kurzen Szenen erzählt, von der Kindheit in der DDR bis zur Podiumsdiskussion neben Ivanka Trump, der Tochter des damaligen US-Präsidenten ("Die Kanzlerin am Dönerstand").

Körner spart Kritik an Merkel aber nicht aus. Aminata Touré, Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein, weist in dem Kapitel "Drei Tage im September" zurecht darauf hin, dass Merkel nicht nur für das Nicht-Schließen der deutschen Grenzen für Geflüchtete steht. Sondern auch für mehrere Gesetzespakete, die das Asylrecht ab 2016 erheblich verschärft haben.

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Aminata Touré, Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein. Bild: dpa / Georg Wendt

Das sei "im krassen Kontrast zu ihren Äußerungen" gewesen, sagt Touré. Dann sind die Bilder vom brennenden Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Lesbos zu sehen, aus dem Sommer 2020. Ein dramatisches Symbol dafür, dass unter Merkel nichts wirklich gelöst wurde im Umgang mit Flucht und Elendsmigration nach Europa.

Merkel, die Krasse: Wie sie die Männereliten gezähmt hat

Touré, die selbst 13 Jahre alt war, als Merkel Kanzlerin wurde, sagt aber auch an anderer Stelle in der Doku: 2015 habe sie gedacht: "Die Frau ist schon krass."

Merkel, die Krasse, die sich gegen jede Vorhersage durchgebissen hat an die Spitze der politischen Macht: Das ist ein zweites Merkmal der Kanzlerin a.D., das die Doku sehenswert beleuchtet. Und hörenswert.

Zum Beispiel, wenn Herlinde Koelbl spricht. Die Fotografin hat Merkel in den 1990ern für ihre Langzeitstudie "Spuren der Macht" Jahr für Jahr fotografiert und festgehalten, wie das Amt die Frau verändert hat. Sie sagt in der Doku über Merkel Sätze wie diesen:

"Sie wusste sehr genau, was sie nicht will."

Und, später:

"Sie hat die Männer schon längst analysiert und durchschaut. Und sie kann warten."

Koelbl bezieht sich auf die Art, mit der Merkel sich nach oben gekämpft hat: von der blassen CDU-Newcomerin aus dem Osten bis zur mächtigsten Frau der Welt. Der Film verdeutlicht, wie hoch und breit die Hürden waren: Es sind Bilder zu sehen von Merkels altem Mentor Kohl: Wie dieser Schneepflug von einem Mann 1999 wartende Journalisten zur Seite räumen ließ, auf dem Weg zu einem Termin nach Bekanntwerden der CDU-Spendenaffäre.

Merkel, sagt Koelbl, habe sich auf dem Weg zur Spitze wie ein "U-Boot" verhalten: verdeckt bleiben, kaum sichtbar – um dann loszuschießen, wenn der Moment zum Angriff da ist. Kurz vor Weihnachten 1999 war es für Merkel so weit. Immer mehr wurde bekannt über schwarze Kassen und zwielichtige Spenden an die CDU, über die Verantwortung Helmut Kohls.
Merkel feuerte ihren Torpedo ab, einen Gastbeitrag in der FAZ, in dem sie die CDU aufforderte, sich loszustrampeln von Kohl, dem Übervater.

Kohl war nur der erste Mann mit gigantischem Ego, den Merkel aus dem Weg räumte. Regisseur Körner fasst es in einer Bilder-Abfolge zusammen: die beleidigten Gesichter von Roland Koch, Christian Wulff, Friedrich Merz. Alle drei strebten nach Kohls Abgang, Ende der 1990er und Anfang der 2000er, nach oben, es waren Oppositionsjahre für die Unionsparteien. Politologe Herfried Münkler sagt für die Doku in die Kamera: "Dann haben sie sich auch noch angestellt und haben vom Spielfeldrand geheult."

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Abserviert: Die damalige CDU-Chefin Angela Merkel im Jahr 2002 neben Friedrich Merz, damals Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag. Bild: imago images / Karl-Bernd Karwasz

Zumindest ein bisschen verrät Merkel auch, wie sie selbst denkt über diese Zeit. "Das war eine ganz andere Welt", meint sie im Interview im Dezember 2021, "nicht sexistisch, aber paternalistisch." Ursula von der Leyen, unter Merkel Familien-, Arbeits- und Verteidigungsministerin und heute Präsidentin der Europäischen Kommission, wird deutlicher: "Es war eine unfassbare Rücksichtslosigkeit und Verächtlichkeit."

Wie Merkel diese Männerelite gezähmt hat, erzählt Körner wieder in drei starken Bildern: Kohl, wie er in den 1990ern auf einem CDU-Parteitag gönnerhaft herabblickt auf die Frau, die viele damals "Kohls Mädchen" nannten; Kohl neben Merkel im Kanzleramt in Berlin, als sie Kanzlerin ist; Merkel 2017 am Sarg Kohls.

Mensch Kanzlerin: Fährten zu Merkels Wesen

Am Menschen Merkel arbeiten sich Journalistinnen und andere Autoren seit den Neunziger Jahren ab: an der Frage, wie diese Frau wirklich tickt, was auch immer das heißen mag. "Im Lauf der Zeit" versucht sich angenehmerweise nicht einmal an einer umfassenden Antwort. Der Film legt aber Fährten: etwa zum Elternhaus in Templin, zur Kindheit im DDR-Bezirk Neubrandenburg gelegen. Im Waldhof, wo Angela aufwuchs, lebten Menschen mit geistiger Behinderung. Ihr Elternhaus, erzählt Merkel selbst im Film, sei "sehr offen" gewesen "für Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft".

Eine Merkel-Art, die weniger sympathisch wirkt: Ihr Unvermögen oder ihr Unwille, langfristige Probleme entschlossen anzupacken. Es sind junge Menschen, die sich vor allem dazu äußern. Treffend drückt es Carla aus, die 16-jährige Schülerin. Merkel habe ja als "Mutti" gegolten. "Es ist gut, wenn man eine Mutter hat, die einen alles machen lässt. Aber manchmal ist es besser, wenn die Mutter sagt: So machst du das jetzt."

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Das Haus im brandenburgischen Templin, in dem Angela Merkel aufwuchs (Aufnahme aus dem Jahr 2005).Bild: www.imago-images.de / Charles Yunck

Bemerkenswert sind auch die kaum bekannten Einblicke in Merkels Wesen, die der Film zu bieten hat. Schauspieler Ulrich Matthes erzählt, dass er eines Abends der Kanzlerin bei einem Gespräch gesagt habe, er habe gerade Liebeskummer. Matthes wörtlich: "Dann sagte sie: Nach dem Abend möchte ich sie aber mal in den Arm nehmen." Und dann: "Da stand sie und knuddelte mich."

In einer der letzten Szenen ist zu sehen, wie Merkel ihren Arbeitsplatz zum letzten Mal verlässt, nachdem sie an ihren Nachfolger Olaf Scholz übergeben hat. Mitarbeitende des Bundeskanzleramts stehen auf beiden Seiten und klatschen.

Carla, die 16-jährige Schülerin, gibt der krassen Frau, die Deutschland 16 Jahre lang weibliche Macht vorgeführt hat, dann noch einen Wunsch mit: "Ich wünsche mir, dass sie einfach einmal durch die Stadt gehen kann, ohne alle Blicke auf sich zu haben. Dass sie alles ein bisschen lockerer sehen kann."

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