Seit Tagen streitet Siemens mit Klimaschützern über einen Auftrag für ein riesiges Kohlebergwerk in Australien. Am Freitag hat Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser schließlich der Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer ein Angebot gemacht: Er bat ihr einen Posten im Aufsichtsrat eines Siemens-Tochterunternehmens an. Die Verdienstmöglichkeiten dort sind durchaus attraktiv: mit Zulagen sind bis zu 400.000 Euro im Jahr drin.
Wir haben Finanz-, Umwelt- und Wirtschaftsexperten gefragt, was ein Aufsichtsratsposten für Luisa Neubauer bedeutet hätte, was Joe Kaeser mit seinem Angebot bezweckt hat und wie ernst es Siemens mit dem Umweltschutz meint.
Die wichtigsten Fragen im Überblick.
Finanz- und Börsenexperte Hendrik Leber von acatis sagt gegenüber watson: "Sobald Luisa Neubauer Mitglied des Aufsichtrates ist, ist sie zu Verschwiegenheit verpflichtet. Das bedeutet, sie darf nicht über das sprechen, was dort diskutiert wird und sich auch nicht kritisch über das Unternehmen äußern."
Was die Einflussmöglichkeiten von Luisa Neubauer im Aufsichtsrat angeht, ist Leber auch skeptisch: "Luisa Neubauer hätte sich im Aufsichtsrat nicht durchsetzen können. Da sind 20 Mitglieder, die gewinnorientiert wirtschaften. Man hätte ihr sicher zugehört, aber mehr nicht."
Die Schätzungen, dass Luisa Neubauer ein sechsstelliges Gehalt als Aufsichtsratsmitglied erhalten hätte, teilt Leber. Im Geschäftsbericht von Siemens für 2018 wird pro Aufsichtsratsmitglied eine Grundvergütung von 140.000 Euro angegeben. Zuzüglich Sitzungsgeld und anderen Boni kann man so auch mal auf bis zu 400.000€ kommen. Da es sich bei dem Aufsichtsratsposten um den einer Siemens-Tochter handelt, also nicht Siemens selbst, könnte das Gehalt etwas darunter liegen. Trotzdem viel Geld für eine 23-jährige Studentin.
Dass Siemens an seinem Projekt festhält, sich an dem Bau eines Kohlebergwerks in Australien zu beteiligen, sieht Leber differenziert: "Es ist für Unternehmen heute schwer nachvollziehbar, wo ihre Waren und Technologien landen. Siemens stellt die Lieferlogistik für dieses Kohlebergwerk in Australien bereit. Das heißt Signaltechnik für die Züge, die die Kohle zum Hafen transportieren, von wo aus die Kohle nach China geschifft wird. Diese Lieferkette bis ins kleinste Detail zu kontrollieren, ist für Unternehmen fast nicht möglich."
Statt der Unternehmen sieht er hier die Politik in der Pflicht: "Man muss dieses Problem politisch lösen, das können Unternehmen alleine nicht leisten. Australien liefert die Kohle nach China. Wenn Australien und China dem Klimapakt beitreten würden, hätte das einen ganz anderen Einfluss."
Claudia Kemfert sieht das anders. Sie ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und sagt zu watson: "Siemens hat mit der Entscheidung, das Kohleprojekt in Australien anzunehmen, einen Fehler gemacht. Australien ist besonders vom Klimawandel betroffen, das Kohleprojekt führt zu erheblichen negativen Umweltwirkungen. Der Imageschaden für den Konzern ist nun besonders hoch und hätte vermieden werden können", so Kemfert.
Für Neubauers Absage zeigt Expertin Kemfert Verständnis: "Es war abzusehen, dass Klimaaktivisten in ihrer Rolle verbleiben und sich nicht 'kaufen' lassen, um ihre Unabhängigkeit zu wahren und so weiterhin neutral auf die Risiken des Klimawandels hinweisen und mehr Engagement von allen Seiten einfordern können. Der Konzern sollte aber auch ohne die interne Einbindung von Klimaaktivisten seine Unternehmensstrategie konsequent auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz umstellen und die wahren Kosten des Klimawandels in alle Unternehmensentscheidungen einbeziehen."
Hans A. Bernecker, Finanz- und Börsenexperte sieht das etwas anders: "Joe Kaeser ist Vorstandsvorsitzender der Siemens AG. Er vertritt also die Siemens AG als Konzern inklusive aller Mitarbeiter (immerhin 360.000 weltweit). Dass sich Joe Kaeser der Ideen von Frau Neubauer überhaupt annimmt und sie zu Gesprächen einlädt, spricht für ihn", sagt er gegenüber watson.
"Joe Kaeser steht der Politik relativ nahe und ist der angeblich wichtigste Begleiter der deutschen Wirtschaft für die Bundeskanzlerin bei Auslandsreisen. Daraus folgt, dass er persönliche Sympathien zu der Bewegung Fridays for Future äußern kann, aber eher als Privatmann und deutlich weniger als Konzernchef." Bernecker zufolge wäre die Entscheidung anders gefallen, wenn es sich um ein deutsches Kohlekraftwerk gehandelt hätte und nicht eines in Australien.