Der Berliner Virologe Christian Drosten und andere Kollegen stellen sich gegen eine Corona-Strategie mit einer Herdenimmunität als Ziel.Bild: imago images / photothek
Deutschland
20.10.2020, 07:1620.10.2020, 15:11
Der Berliner Virologe Christian Drosten
und andere Kollegen stellen sich gegen eine Corona-Strategie mit
einer Herdenimmunität als Ziel. "Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis,
dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der
Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer
Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen", heißt es
in einer Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie (GfV) mit Sitz
in Heidelberg, an der auch Drosten beteiligt war. Herdenimmunität
bedeutet, dass ein großer Teil der Bevölkerung nach einer Infektion
oder Impfung immun geworden ist, und sich das Virus dadurch nicht
mehr so gut ausbreiten kann.
Die Virologen beziehen sich in ihrem Text auf die sogenannte
Great-Barrington-Erklärung, die drei Forscher aus den USA und
Großbritannien verfasst haben. Laut einer eigenen Webseite haben
bereits viele Hunderttausend Menschen die Erklärung unterzeichnet.
In
dem Text heißt es unter anderem: "Der einfühlsamste Ansatz, bei dem
Risiko und Nutzen des Erreichens einer Herdenimmunität gegeneinander
abgewogen werden, besteht darin, denjenigen, die ein minimales
Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie
durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen
können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser
geschützt werden." Die Verfasser befürchten, dass die harten
Maßnahmen "irreparablen Schaden verursachen, wobei die
Unterprivilegierten unverhältnismäßig stark betroffen sind".
In der Erklärung der Virologen, zu denen neben Drosten etwa auch Melanie Brinkmann und Isabella Eckerle zählen, heißt es dazu: "Wir lehnen diese Strategie entschieden ab, obwohl wir selbstverständlich die enorme Belastung der Bevölkerung durch die einschneidenden Eindämmungsmaßnahmen anerkennen."
Unkontrollierte Durchseuchung würde zu Zunahme an Todesopfern führen
Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden
Zunahme an Todesopfern führen, schreibt hingegen die Gesellschaft für
Virologie in Heidelberg. Denn selbst bei strenger Isolierung älterer
Menschen gebe es noch weitere Risikogruppen, die viel zu zahlreich,
zu heterogen und zum Teil auch unerkannt seien, um aktiv abgeschirmt
werden zu können. "Ein erhöhtes Risiko für einen schweren
Covid-19-Verlauf ergibt sich beispielsweise bei Übergewicht,
Diabetes, Krebserkrankungen, einer Niereninsuffizienz, chronischen
Lungenerkrankungen, Lebererkrankungen, Schlaganfall, nach
Transplantationen und während einer Schwangerschaft."
Laut GfV weiß man noch nicht zuverlässig, wie lange eine durch
eine Infektion erworbene Immunität anhält. Das Anstreben der
Herdenimmunität ohne Impfung sei unethisch sowie medizinisch,
gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant.
Vor etwa einer Woche hatte bereits die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) davor gewarnt, bei der Bekämpfung
der Corona-Pandemie auf eine Herdenimmunität durch massenweise
Ansteckungen zu setzen. "Niemals in der Geschichte des
Gesundheitswesens wurde Herdenimmunität als eine Strategie gegen
einen Ausbruch eingesetzt, geschweige denn gegen eine Pandemie",
sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.
Steigende Infektionszahlen "Beginn einer exponentiellen Ausbreitung"
Die Gesellschaft für Virologie spricht mit Blick auf die
steigenden Infektionszahlen in Deutschland vom "Beginn einer
exponentiellen Ausbreitung". Weiter heißt es: "Aufgrund der
explosiven Infektionsdynamik, die wir in allen Hotspots quer durch
Europa feststellen, steht zu befürchten, dass ab einer bestimmten
Schwelle auch in bisher unkritischen Regionen die Kontrolle über das
Infektionsgeschehen verloren geht."
Bei Überschreiten dieses Schwellenwerts sei die Nachverfolgung
einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmaßnahmen nicht mehr zu
machen. Eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile
sei dann nicht mehr zu verhindern. "Es steht zu erwarten, dass dies
zu einer raschen Überlastung der Gesundheitssysteme führen würde, was
zum Beispiel in Deutschland allein schon wegen des Mangels an
Intensivpflegekräften bereits bei weit unter 20 000 Neuinfektionen
pro Tag der Fall sein könnte."
(mse/dpa)