Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trifft Polizistinnen und Polizisten, die am Samstag im Rahmen von Anti-Corona-Demonstrationen am Reichstag eingesetzt waren, zum Gespräch auf Schloss Bellevue.Bild: dpa Pool / Bernd von Jutrczenka
Deutschland
31.08.2020, 06:3031.08.2020, 12:04
Nach dem Vordringen von Demonstranten auf die
Treppe des Reichstagsgebäudes stellt sich die Frage nach der
Polizeitaktik und nach Konsequenzen für das Sicherheitskonzept. Wie
konnte es passieren, dass am Samstag am Rande der Demonstrationen
gegen die Corona-Politik in Berlin 300 bis 400 Regierungskritiker,
"Reichsbürger" und Rechtsextremisten Absperrungen vor dem Sitz des
Bundestags überwinden und die Freitreppe besetzen konnten? Müssen die
Sicherheitsmaßnahmen nun verschärft werden?
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) und die Polizeiführung
müssen am Montag (9 Uhr) im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses
Rede und Antwort stehen zu dem Einsatz bei den Demonstrationen. Im
Bundestag wollen SPD- und Unionsfraktion eine Sondersitzung des
Ältestenrats beantragen, um Pläne zur Errichtung einer
Sicherheitszone am Parlament zu überprüfen. Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier will zudem Polizisten in seinen Amtssitz
Schloss Bellevue zum Gespräch empfangen, die am Parlamentsgebäude
eingesetzt waren. Dort hatten zunächst nur drei Beamte mit Mühe die
andrängende Menge vom Eingang ins Plenargebäude ferngehalten.
Polizei "gut fertig geworden"
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) nannte es in den
ARD-"Tagesthemen" "verabscheuungswürdig, was da geschehen ist".
Insgesamt sei die Berliner Polizei aber mit der Sache "gut fertig
geworden". Er stellte infrage, dass sie besser darauf hätte
vorbereitet sein müssen: "Wie wollen sie darauf vorbereitet sein?",
fragte er rhetorisch. Der Deutschen Presse-Agentur hatte Schäuble
zuvor gesagt, dass es überhaupt zu dem Angriff habe kommen können,
müsse "schnell und umfassend aufgearbeitet werden".
Steinmeier und Politiker aller Parteien, auch der AfD, hatten das
Vorgehen der Demonstranten verurteilt. "Reichsflaggen und
rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein
unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden
wir niemals hinnehmen", sagte Steinmeier.
Er hatte bereits am Sonntag den Polizisten gedankt, "die in
schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben". Ähnlich äußerten
sich auch Berlins Regierungender Bürgermeister Michael Müller (SPD)
und Innensenator Geisel.
"Ich danke der Polizei, dass sie diesen Spuk schnell beendet hat."
Innensenator Geisel
Linksfraktionschef Dietmar Bartsch schlug vor, die Polizisten zu
ehren, die zunächst allein den Parlamentseingang geschützt hatten.
Mit Bezug auf einen der drei, der sich der Menge ohne Helm
entgegengestellt hatte, sagte er im ZDF: "Das ist eigentlich jemand,
der ein Bundesverdienstkreuz verdient hat."
Müller will nun "auswerten, wie das Einsatzkonzept der Polizei
verbessert werden kann". Auf Twitter schrieb er aber auch: "Mit
Besonnenheit und einem klare Grenzen setzendem Konzept konnte die
Polizei an vielen Stellen in der Stadt Schlimmeres verhindern."
Bundespolitiker von CSU und Grünen regten an, die Beschränkungen
für Demonstrationen in unmittelbarer Nähe des Bundestags zu
erweitern. Der CSU-Rechtspolitiker Volker Ullrich schlug vor, das
faktische Demonstrationsverbot nicht mehr nur auf die Sitzungstage
des Parlaments zu beschränken - "mit der Möglichkeit Ausnahmen
zuzulassen", wie er der "Welt" sagte. Auch Grünen-Fraktionsvize
Konstantin von Notz sieht Handlungsbedarf. Innen-Staatssekretär
Stephan Mayer (CSU) hingegen sagte: "Ich sehe keine unmittelbare
Notwendigkeit, aufgrund dieses einen zugegebenermaßen unerträglichen
und beschämenden Vorfalls, die Bannmeile um den Reichstag zu
erweitern oder die Regelungen zu verschärfen."
Schwarz-weiß-rote Reichsflaggen wurden geschwenkt
Nach Polizeiangaben hatten am Samstagabend etwa 300 bis 400
Demonstranten Absperrgitter am Reichstagsgebäude überrannt und sich
triumphierend und lautstark vor dem verglasten Besuchereingang
aufgebaut. Dabei wurden vor dem Herzstück der Demokratie auch
schwarz-weiß-rote Reichsflaggen geschwenkt. Nach einer Weile bekamen
die drei ersten Polizisten Verstärkung, und die Beamten drängten die
Menschen auch mit Pfefferspray zurück.
Zuvor hatten nach Schätzungen der Polizei knapp 40 000 Menschen
aus ganz Deutschland weitgehend friedlich auf der Straße des 17. Juni
gegen die Corona-Politik demonstriert. Insgesamt waren laut Polizei
noch deutlich mehr Demonstranten bei weiteren Veranstaltungen in der
Innenstadt unterwegs. Am Rande kam es zu Stein- und Flaschenwürfen
von "Reichsbürgern" und Rechtsextremisten auf Polizisten.
Bei den Demonstrationen wurden laut Polizei am Samstag 33
Polizisten verletzt. 316 Menschen wurden festgenommen, 131 angezeigt.
Insgesamt waren 3000 Polizisten eingesetzt.
Corona-Camp verboten
Corona-Gegner scheiterten am späten Sonntagabend mit dem Versuch,
beim Bundesverfassungsgericht ein Protestcamp auf der Straße des 17.
Juni durchzusetzen. Zuvor hatte bereits das Oberverwaltungsgericht
Berlin ein Verbot der Versammlungsbehörde bestätigt. Die Karlsruher
Richter sahen den Infektionsschutz nicht gewährleistet.
Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann riet davon ab, die
vielfach gezeigten Reichsflaggen zu verbieten. Die mit Hakenkreuz
seien verboten, sagte er der "Rheinischen Post" (Montag). "Alle
Varianten und Spielarten dieser Flagge strafbewehrt zu verbieten wäre
unverhältnismäßig und kein geeignetes Instrument zur Bekämpfung
rechten Gedankengutes."
(lin/dpa)