Christian Drosten warnt vor steigenden Inzidenzen und tödlicheren Krankheitsverläufen.Bild: imago images / Janine Schmitz/photothek.net
Deutschland
02.04.2021, 18:1002.04.2021, 19:35
Der Virologe Christian Drosten fordert harte Maßnahmen im Kampf gegen die rasant steigenden Corona-Neuinfektionen. "Wir werden um einen ernsthaften Lockdown nicht herumkommen", sagte der Chefvirologe der Berliner Charité dem "Spiegel" laut Vorabmeldung vom Freitag. "Dass gegen diese aggressivere Variante ein Teil-Lockdown mit abgestuftem Maßnahmenkatalog nicht durchgreift, haben wir in Paris und London gesehen." Dort seien die Inzidenzen sowie die Zahl schwerer und oft auch tödlicher Krankheitsverläufe immer weiter gestiegen.
Dazu kommt, dass 100 Tage nach Impfstart bisher nur 5 Prozent der Bevölkerung geimpft wurden. Nach Einschätzung des RKI reichen die Impffortschritte nicht, um die dritte Pandemie-Welle auszubremsen.
Noch bestehe die Chance, eine Entwicklung wie in Paris und London in deutschen Großstädten abzuwenden, sagte Drosten. "Dazu ist jetzt aber politisches Handeln und auch die Unterstützung möglichst vieler Menschen notwendig."
"Wir könnten jetzt schon bei Zehner-Inzidenzen sein"
Die Virologin Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum warnte, wenn alles so weiterlaufe wie bisher, "wird jeder in seinem ganz direkten Umfeld Menschen kennen, die im Krankenhaus waren, gestorben sind, unter Langzeitschäden leiden". Sie sei wütend, dass nicht früher reagiert wurde auf die Warnungen der Wissenschaft, sagte sie dem "Spiegel".
"Wir könnten jetzt schon bei Zehner-Inzidenzen sein, wenn die Politiker bei der Bund-Länder-Konferenz im Januar ernst genommen hätten, was wir ihnen gesagt haben", beklagte Brinkmann. Dass die Ministerpräsidenten stattdessen auf Lockerungen setzten, mache sie fassungslos.
Auch Experten der Intensivmedizin fordern einen harten Lockdown
"Innerhalb von vier Wochen kriegen wir die Zahlen massiv runter, wenn die Menschen kaum Kontakte haben", sagte Brinkmann. "Je stärker alle auf die Bremse treten, desto kürzer währt der Lockdown."
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis, forderte ebenfalls einen sofortigen Lockdown. Er verwies im "Spiegel" auf die Lage in Paris, wo er mit Kollegen in Kontakt stehe. Dort gebe es inzwischen so viele Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen, dass Personal eingesetzt werden müsse, welches gar nicht dafür ausgebildet sei.
Die Angst vor einer Triage steigt
Der normale OP-Betrieb sei weitgehend eingestellt. "Und die Ärzte bereiten sich ernsthaft auf eine Triage vor", sagte Karagiannidis.
Optimistischer äußerte sich der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. "Eine totale Überlastung unseres Gesundheitssystems oder gar Triage wird es in den kommenden Wochen absehbar nicht geben. Es droht auch kein Ende der Versorgung", sagte er der "Bild"-Zeitung (Samstagsausgabe). "Jeder Schwerkranke – egal ob Covid oder nicht – wird eine angemessene Versorgung in den Kliniken erhalten."
Die Infektionszahlen steigen wieder
Zu der möglichen Überforderung der Krankhäuser kommt ein schleppender Impfprozess. Fast 100 Tage nach dem deutschen Impfstart in der Pandemie haben nur rund fünf Prozent der Bevölkerung bereits die zweite Dosis erhalten. Mehr als 11,5 Prozent haben mindestens die erste Spritze bekommen, wie aus offiziellen Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) hervorgeht.
Am Donnerstag meldete das RKI 24.300 neue Corona-Infektionen – das war der höchste Tageswert seit Mitte Januar.
EU-Impfziel für Menschen über 80 wurde in Deutschland verfehlt
Innerhalb von drei Wochen hat sich die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz damit fast verdoppelt. Hatte der Wert am 12. März noch bei 72,4 gelegen, gab ihn das RKI am Freitag mit 134,0 an.
Die Impfkampagne sei noch nicht so weit vorangeschritten, um das Infektionsgeschehen wesentlich zu beeinflussen, heißt es im jüngsten RKI-Bulletin. Deutschland hat das EU-Impfziel für Menschen über 80 Jahre darüber hinaus verfehlt. Ziel der EU-Kommission war, dass mindestens 80 Prozent dieser Altersgruppe bis Ende März gegen das Coronavirus geimpft sein sollten. Gemeldete Daten aus deutschen Bundesländern liegen nach RKI-Angaben aber deutlich darunter – zwischen 26 Prozent und 47 Prozent bei den Zweitimpfungen.
Nach einer Modellprognose des Instituts lässt sich eine Überlastung der Intensivstationen nur verhindern, wenn Lockerungen vorsichtig erst ab Mai und Juni sowie dann mit sukzessiver Steigerung bis in den Spätsommer kommen. Dann könnte ein Großteil der Bevölkerung geimpft sein.
(lfr/afp)