Nach den neuen Corona-Maßnahmen müssen Kino-Säle bis auf weiteres komplett leer bleiben.Bild: imago stock&people / Matthias Kimpel
Deutschland
Sie haben Plexiglas installiert, Kinositze gesperrt, auf Onlinetickets umgestellt. Jetzt sollen Kultureinrichtungen in Deutschland wieder vorübergehend schließen. Über eine Branche, in der nicht nur der Ärger wächst.
29.10.2020, 19:2529.10.2020, 19:28
Eigentlich ist jetzt die wichtige Zeit. Für Kinos sind
die grauen Monate die guten. Wenn es draußen nieselt und schon
nachmittags dunkel wird, laufen die Blockbuster. In diesem Jahr
allerdings sind die Starts vieler Filme abgesagt – und Kinos sollen
wieder schließen. Ein Monat Stillstand, um das Virus auszubremsen.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spricht von einer
"Vier-Wochen-Therapie". Nicht nur Filmtheater, auch Theater, Opern
und die Gastronomie sollen dichtmachen. Fragt man die Kulturbranche,
wie viel Therapie darin steckt, stößt man auf Unmut.
"Wir können alle nur inständig hoffen, dass der Patient Deutschland
Herrn Söders "Vier-Wochen-Therapie" auch wirtschaftlich überlebt",
sagt Christine Berg vom Hauptverband Deutscher Filmtheater (HDF
Kino). Nur wenn es jetzt sofort unbürokratische Finanzhilfen gebe,
würden Kinos diese "erneute Radikalkur" durchstehen.
Erst weniger Plätze, jetzt leere Plätze. Kultureinrichtungen müssen wieder schließen.Bild: www.imago-images.de / DIRK WAEM
Schon im Frühjahr hatten viele Einrichtungen bundesweit geschlossen.
Seitdem haben viele Häuser investiert. In Plexiglasscheiben an der
Kasse, in Online-Ticketsysteme, in Desinfektionsmittel. Vor allem in
Abstand. Im Kino bleiben Plätze frei. Das Berliner Ensemble und das
Münchner Residenztheater hatten zwischenzeitlich ganze Sitzreihen
ausgebaut.
Mittlerweile aber sind die Infektionszahlen in Deutschland wieder
stark gestiegen. Binnen eines Tages wurden zuletzt rund 16.800 neue
Ansteckungen gemeldet, wie aus Angaben des Robert Koch-Instituts vom
Donnerstagmorgen hervorgeht.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Länderchefs haben vereinbart,
das öffentliche Leben ab Montag wieder herunterzufahren. Wenn man
warten würde, "bis die Intensivstationen voll sind", wäre es zu spät,
verteidigte Merkel den Beschluss am Donnerstag. Nun sollen
beispielsweise Geschäfte und Schulen offen bleiben, Restaurants und
Freizeiteinrichtungen aber schließen.
Prominente richten offenen Brief an Politk
Zahlreiche Prominente wie Carolin Kebekus, Hazel Brugger, Luke Mockridge und Felix Lobrecht haben sich in einem offenen Brief an die Politik gewandt. Sie fordern mehr Unterstützung für die Veranstaltungsbranche. Man habe trotz aufwendig erarbeiteter Hygienekonzepte das Gefühl vermittelt bekommen, "weniger wert (...) als Autos, Flugzeuge und Fußballspieler", zu sein.
"Diese Forderung bezieht sich dabei ganz explizit nicht auf uns wenige Topverdiener der Branche, sondern auf die vielen finanziell angeschlagenen privatwirtschaftlichen Kulturstätten, denen die Schließung droht oder die bereits schließen mussten", schreiben sie auf ihren Social-Media-Kanälen.
"Helfen Sie jetzt! Sonst werden wir in ein paar Monaten kulturell ein ärmeres Land sein. Vieles von dem, was dann verschwindet, wird nicht wiederkommen"
Weiter heißt es in dem Brief: "Die gesamte Veranstaltungsbranche ist in Deutschland der sechstgrößte Wirtschaftszweig. Hier sind etwa 1,7 Millionen Menschen beschäftigt, und es werden knapp 130 Milliarden Euro direkt umgesetzt. Unsere Spezialisten haben Corona-Konzepte erarbeitet, die auch bei den wenigen Veranstaltungen, die es seit Pandemiebeginn gab, erwiesenermaßen einwandfrei funktioniert haben." Dass erneut Kulturveranstaltungen verboten werden, sei inakzeptabel.
Sicherheitskonzepte sind nun hinfällg
Auch der Kinoverband spricht von einem "ständigen Auf und Ab". Seit sechs
Monaten arbeiteten sie mit Sicherheitskonzepten, großen Räumen,
Belüftungsanlagen und einer geringeren Auslastung. "Die Kinos
übernehmen eine große Verantwortung für ihre Besucher und dennoch
nützt ihnen das überhaupt nichts", teilte HDF-Vorstand Berg mit. "Wir
sind fassungslos."
Wirtschaftlich sei das Ganze eine Katastrophe, sagt auch Christian
Bräuer von der AG Kino. Dem Verband gehören Arthouse-Kinos an. Auch
sie sähen natürlich die Entwicklung der Infektionen mit Sorge. Aber
Kinos seien sichere Orte, das hätten sie mit der Umsetzung von
Hygienekonzepten bewiesen. "Das Publikum ist sehr diszipliniert."
Ähnlich argumentieren auch andere Kulturverbände. Es gebe bisher
"keine gemeldeten Fälle von Museen als Infektions-Hotspots", hatte
etwa der Deutsche Museumsbund vor den Beratungen mitgeteilt.
Was weiß man also zur Frage, wo sich Menschen anstecken? Vom Robert
Koch-Institut heißt es, dass viele der nachvollziehbaren Fälle auf
private Treffen und Gruppenveranstaltungen zurückgehen. Die Angaben
seien aber mit Zurückhaltung zu interpretieren. Ein wichtiger Punkt
dabei: Nur für einen Bruchteil lässt sich nachvollziehen, wo die
Ansteckung wahrscheinlich stattfand.
Zukunftsangst in der Kulturbranche
Aus Sicht des Bremer Epidemiologen Hajo Zeeb ist die Schließung der
Kultur durchaus bitter. Ihm mache es Sorgen, dass der Bereich als
nicht so entscheidend angesehen werde. Die Kulturbetriebe hätten gute
Hygienekonzepte entwickelt. "Auf der anderen Seite sind das
Veranstaltungen, wo Menschen zusammenkommen – auch bei guten
Konzepten." Es gebe die An- und Abreise, es komme zu Kontakten, dabei
müsse das Ziel eine Kontaktverminderung sein.
In Teilen der Kulturbranche wächst nun die Zukunftsangst. Die
Schätzungen, wie viel Minus die Kinos in diesem Jahr einfahren, gehen
auseinander. Die Filmförderungsanstalt hatte eine Analyse beauftragt,
die im Sommer ein Minus zwischen 225 Millionen und 325 Millionen Euro
prognostizierte. Das war noch vor Ankündigung der zweiten Schließung.
Beim HDF ist derzeit von einem prognostizierten Verlust von etwa
einer Milliarde Euro die Rede.
Das Aktionsbündnis Alarmstufe Rot der Veranstaltungsbranche ging am 28.10. in Berlin gegen die Existenznot auf die Straße.Bild: www.imago-images.de / Bernd Friedel
Der Bund hat für die Wirtschaft neue Hilfsgelder in Höhe von zehn
Milliarden Euro angekündigt. Firmen, die besonders von den neuen
Regeln betroffen sind, sollen große Teile ihres Umsatzausfalls
ersetzt bekommen. Betriebe mit bis zu 50 Mitarbeitern und
Solo-Selbstständige sollen 75 Prozent ersetzt bekommen. Für größere
Unternehmen werden die Sätze von Fall zu Fall unterschiedlich sein.
Es sei das Mindeste, dass die Politik den Branchen nun stark unter
die Arme greife, hatte HDF-Vorstand Berg gefordert. Die Tücke liege
jedoch im Detail. Die letzten Monate hätten gezeigt, dass viele
Kinobetriebe durch Förderraster gefallen seien - etwa wegen der Zahl
ihrer Mitarbeiter, Leinwände oder Standorte.
Unterstützung sei existenzwichtig, sagt auch Programmkinochef Bräuer,
der Kinos in Berlin betreibt. Er gibt zu bedenken, dass ein Lockdown
in der Branche auch dann noch Auswirkungen haben kann, wenn er
eigentlich wieder vorbei ist. Das habe man im Frühling gesehen.
Filmindustrie gerät ins Wanken
Denn Kinos alleine funktionieren nicht. Läuft alles im Normalbetrieb,
sind sie Teil einer ziemlich gut geölten Maschine. Produktion,
Marketing, öffentlichkeitswirksame Premieren und Filmkritiken - das
alles passiert, bevor ein Film überhaupt anläuft. Mittlerweile ist
die Maschine ins Stottern geraten. Große Filme wie der neue "James
Bond" sind verschoben, die Disney-Neuverfilmung "Mulan" wanderte
gleich in den Streamingdienst ab. Auch der neue Animationsfilm "Soul"
soll gleich online laufen.
Andere Verleiher zeigten sich solidarisch. So sollte etwa der Krimi
"Kaiserschmarrndrama" Mitte November anlaufen, jetzt muss ein neues
Datum her. Constantin Film will aber an einem bundesweiten
Starttermin noch in diesem Jahr festhalten. Auch der Kinostart von
Sönke Wortmanns "Contra" war auf Dezember vorgezogen worden.
Entscheidungen, die die Kinobranche als Hoffnungssignal deutete.
Jetzt herrscht wieder Unsicherheit. Können die Kinos auch wirklich
wieder im Dezember aufmachen? Und was ist mit den Filmen, die jetzt
gerade erst angelaufen sind? Die würden "abgewürgt", sagt Bräuer.
Dabei seien durchaus wichtige Filme für die Arthouse-Branche dabei – "On the Rocks" von Sofia Coppola, der Krimi "Eine Frau mit
berauschenden Talenten" oder Miranda Julys "Kajillionaire".
"Wir werden in Mithaftung genommen für eine Symbolpolitik"
Eigentlich hätte jetzt auch der Gewinnerfilm der Berlinale anlaufen
sollen. "Doch das Böse gibt es nicht" aus dem Iran ist auf ungewisse
Zeit verschoben. "Wir haben in den letzten drei Monaten auf den Start
hingearbeitet und fast eine Viertelmillion Euro in den Film
investiert", erklärt der Verleih Grandfilm. "Dass wir ihn jetzt nicht
auswerten können, stellt für uns eine existenzielle Bedrohung dar."
Auch in der Theaterszene gibt es wieder offene Fragen und Unmut. Die
neue Chefin der Münchner Kammerspiele, Barbara Mundel, warf der
Politik in der "Süddeutschen Zeitung" "komplette Willkür" vor. Der
Bundesverband Schauspiel (BFFS) findet es unsinnig, dass Theater
wieder schließen sollen. "Wir werden in Mithaftung genommen für eine
Symbolpolitik", sagt der Geschäftsführende Intendant der
Staatstheater in Stuttgart, Marc-Oliver Hendriks. "Das schmerzt."
(mse/lau/dpa)