Zuerst gab es sie in China, dann in Italien, Spanien und Frankreich: Ausgangssperren. Die Bevölkerung darf nur noch das Haus verlassen, wenn sie zur Arbeit, in den Supermarkt oder zum Arzt geht.
Als erstes deutsches Bundesland hat Bayern nun am Freitagmittag eine Ausgangsbeschränkung verkündet. Ab Freitagnacht, 0 Uhr, tritt die Regelung in Kraft.
Restaurants, Friseure und Baumärkte bleiben demnach geschlossen. Ein Besuch im Krankenhaus oder im Pflegeheim sei nur im Palliativfall erlaubt. "Wir sperren Bayern nicht zu, wir sperren Bayern nicht ein", betonte Ministerpräsident Markus Söder (CSU).
Generelle Ausgangssperren wären nach Ausgangsbeschränkungen wohl der nächste Schritt und stehen als drastischste Maßnahme im Raum. Bislang hat Deutschland im Gegensatz zu den Nachbarländern darauf verzichtet. Dabei fordern viele Nutzer etwa in den sozialen Netzwerken, dass es noch striktere Maßnahmen brauche.
Wäre eine tatsächliche Ausgangssperre also sinnvoll? Nein, findet der Virologe Alexander Kekulé. "Eine bundesweite Ausgangssperre wäre epidemiologisch unbegründet, wirtschaftlich desaströs und eine soziale Katastrophe", schreibt er auf Twitter.
"Es gibt weniger einschneidende, aber genauso wirksame Mittel", ergänzt er. Bereits im MDR-Podcast "Kekulés Corona-Kompass" von Donnerstag schilderte der Virologe die seiner Ansicht nach verheerenden Konsequenzen, dürften wir bald praktisch nicht mehr vor die Türe gehen:
An solch drastischen Lösungsansätzen zweifelt Kekulé vor allem, weil es nicht möglich ist, Menschen vollständig zu regulieren. "Wir haben nie die Chance, diese antiepidemischen Maßnahmen hundertprozentig durchzusetzen. Das wird nie funktionieren, weil Menschen einfach nicht ferngesteuert werden können", sagt er.
Dementsprechend meint Kekulé in seinem Podcast von Freitag auch, dass wir in Deutschland auch nicht die Maßnahmen des totalitären Staates China kopieren dürften, nur, weil sie dort erfolgreich gewesen wären:
Gerade am Beispiel Bayern, dem Bundesland, das unter Söder nun die strengsten Maßnahmen deutschlandweit beschlossen hat, macht Kekulé deutlich, dass eine komplette Ausgangssperre nicht nur zweifelhafte Folgen haben könnte, sondern nicht einmal besonders sinnvoll wäre:
Das Problem seien Kekulé nach ohnehin eher die Großstädte. Es sei schwer, Menschen mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Interesse auf "eine Linie" zu bringen.
Auch ist nach bisheriger Datenlage allgemein nicht belegbar, wie effektiv eine Ausgangssperre ist. Virologe Christian Drosten spricht der Sperre im NDR-Podcast "Coronavirus-Update" am Freitag sogar ihren Nutzen ab:
Psychiater Michael Huppertz begründete im Gespräch mit watson ebenfalls, warum er eine Ausgangssperre kontraproduktiv findet:
Spaziergänge, auch gemeinsam mit anderen, hält Huppertz für in Ordnung – solange man körperlichen Abstand voneinander hält.
Die Experten scheinen sich einig: Der Kollateralschaden einer vollständigen Ausgangssperre ist zu groß, um sie als flächendeckende Maßnahme zu fahren. Dass sich Politiker dennoch für eine Ausgangssperre entscheiden könnten, liegt laut Drosten an dem emotionalen Eindruck einer sehr hohen Zahl an Verstorbenen und eines überlasteten Gesundheitssystems.
"Wir laufen in diese Situation rein, wenn viele Menschen nicht verstehen und befolgen, dass man eben nicht mehr in die Öffentlichkeit geht – auch wenn man nicht gleich von der Polizei belangt wird, wenn man das tut", erklärt Drosten
Fasst man die in den letzten Wochen geäußerten Expertenmeinungen zusammen, helfen die bisher getroffenen Maßnahmen, sofern sie möglichst konsequent durchgeführt werden:
Wie das Virus auch ohne Ausgangssperren klein gehalten werden kann, zeigt Südkorea. Das Land hat es ohne den Shutdown geschafft. Über eine Viertelmillion Tests wurden durchgeführt, dazu wurden Drive-in-Teststationen eingerichtet, in denen die Menschen von ihrem Autositz aus getestet wurden. Das Ergebnis bekamen sie binnen 48 Stunden per SMS zugeschickt.
Die Stadt Daegu, Epizentrum Südkoreas, wurde dabei nicht abgeschottet. Umgehen konnten die Bürger die Krisenherde durch Benachrichtigungen per App auf ihrem Handy.
Gleichzeitig haben die südkoreanischen Behörden die Bewegungsdaten von Handys und anderen Mobilgeräten ausgewertet. Bewohner bestimmter Bezirke erhalten Textnachrichten, in denen sie auf die Bewegungen von Infizierten in ihrer Nähe hingewiesen werden. Die Daten sind anonym – und ihre Verwendung erspart es der Bevölkerung, weitreichende Einschnitte in ihr Privatleben hinnehmen zu müssen.
Bewegungsprofile zu erstellen, wäre in Deutschland aus Datenschutzgründen nicht möglich. Die einzige Überlegung wäre, ob die Politiker angesichts der aktuellen Ausnahmesituation die Datenschutzbedingungen lockern wollen. Dass so eine Maßnahme umgesetzt wird, vor allem zeitnah, ist jedoch zu bezweifeln.
Auch die Testkapazitäten in Deutschland zu erhöhen, stellt sich als schwierig da. Verlässliche Schnelltests gegen das Coronavirus gibt es bisher noch nicht, Virologe Drosten rechnet erst ab Mai mit ihnen, wie er in seinem Podcast vom 10. März sagte. Zudem ist das medizinische Personal, das solche Tests durchführen müsste, aufgrund der aktuellen Lage teilweise bereits stark ausgelastet.
Realistischer wäre es, an das Solidaritätsgefühl der Menschen zu appellieren und trotz steigender Infektionszahlen die Wirkung bisher getroffener Maßnahmen abzuwarten, so schwer es auch fällt. Dass eine Ausgangssperre bundesweit verhängt wird, ist im Zweifelsfall dennoch eine Möglichkeit, sollte es auch in einigen Tagen noch zu einem drastischen Anstieg der Fallzahlen kommen.