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Coronavirus: "Desaströs" - Warum Virologen vor Ausgangssperren warnen

Die Menschen in Bayern müssen fortan größtenteils zu Hause bleiben (Symbolbild).
Die Menschen in Bayern müssen fortan größtenteils zu Hause bleiben (Symbolbild). Bild: E+ / martin-dm
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"Unbegründet und desaströs": Warum Virologen vor Ausgangssperren warnen

20.03.2020, 17:5020.03.2020, 19:18
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Zuerst gab es sie in China, dann in Italien, Spanien und Frankreich: Ausgangssperren. Die Bevölkerung darf nur noch das Haus verlassen, wenn sie zur Arbeit, in den Supermarkt oder zum Arzt geht.

Als erstes deutsches Bundesland hat Bayern nun am Freitagmittag eine Ausgangsbeschränkung verkündet. Ab Freitagnacht, 0 Uhr, tritt die Regelung in Kraft.

Restaurants, Friseure und Baumärkte bleiben demnach geschlossen. Ein Besuch im Krankenhaus oder im Pflegeheim sei nur im Palliativfall erlaubt. "Wir sperren Bayern nicht zu, wir sperren Bayern nicht ein", betonte Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

Welche Maßnahmen wurden in Deutschland bisher gegen das Coronavirus getroffen?
Großveranstaltungen wie die Leipziger Buchmesse zum Beispiel wurden abgesagt. Seit vergangenen Montag (beziehungsweise Dienstag in Berlin) sind Kitas und Schulen geschlossen. Darauf folgte die Schließung zahlreicher Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Fitnessstudios und Spielplätzen. Mittlerweile sollen Treffen sozialer Kontakte weitgehend vermieden werden, zu anderen Menschen sollte ein bis zwei Meter Abstand gehalten werden. Hinzu kommen hygienische Regeln wie vom Robert-Koch-Institut empfohlen, also regelmäßiges und gründliches Händewaschen und in die Armbeuge husten.

Generelle Ausgangssperren wären nach Ausgangsbeschränkungen wohl der nächste Schritt und stehen als drastischste Maßnahme im Raum. Bislang hat Deutschland im Gegensatz zu den Nachbarländern darauf verzichtet. Dabei fordern viele Nutzer etwa in den sozialen Netzwerken, dass es noch striktere Maßnahmen brauche.

Wäre eine tatsächliche Ausgangssperre also sinnvoll? Nein, findet der Virologe Alexander Kekulé. "Eine bundesweite Ausgangssperre wäre epidemiologisch unbegründet, wirtschaftlich desaströs und eine soziale Katastrophe", schreibt er auf Twitter.

"Es gibt weniger einschneidende, aber genauso wirksame Mittel", ergänzt er. Bereits im MDR-Podcast "Kekulés Corona-Kompass" von Donnerstag schilderte der Virologe die seiner Ansicht nach verheerenden Konsequenzen, dürften wir bald praktisch nicht mehr vor die Türe gehen:

"Es ist wirklich so, dass man die Menschen da ganz massiv unter Druck setzen würde. Die psychologischen Folgen halte ich da für ganz extrem."

An solch drastischen Lösungsansätzen zweifelt Kekulé vor allem, weil es nicht möglich ist, Menschen vollständig zu regulieren. "Wir haben nie die Chance, diese antiepidemischen Maßnahmen hundertprozentig durchzusetzen. Das wird nie funktionieren, weil Menschen einfach nicht ferngesteuert werden können", sagt er.

Dementsprechend meint Kekulé in seinem Podcast von Freitag auch, dass wir in Deutschland auch nicht die Maßnahmen des totalitären Staates China kopieren dürften, nur, weil sie dort erfolgreich gewesen wären:

"Es ist meines Erachtens nach nicht richtig, dass westliche Demokratien sich das Verfahren eines totalitären Staates zu eigen machen, sondern wir brauchen eine eigene, demokratische, westliche Herangehensweise an dieses Problem."

Gerade Bayern bräuchte keine Ausgangssperre, meint Kekulé

Gerade am Beispiel Bayern, dem Bundesland, das unter Söder nun die strengsten Maßnahmen deutschlandweit beschlossen hat, macht Kekulé deutlich, dass eine komplette Ausgangssperre nicht nur zweifelhafte Folgen haben könnte, sondern nicht einmal besonders sinnvoll wäre:

"Die Menschen in einem Dorf, die sind eigentlich ganz einfach dazu zu bringen, wirklich vernünftig zu sein. Wenn sie das Haus verlassen, dann bleiben sie in den Familien oder Wohngemeinschaften zusammen, die normalerweise auch zusammen wohnen. Da passiert absolut nichts, an der frischen Luft ist man ja relativ sicher vor dem Virus."
Alexander Kekulé

Das Problem seien Kekulé nach ohnehin eher die Großstädte. Es sei schwer, Menschen mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Interesse auf "eine Linie" zu bringen.

Auch ist nach bisheriger Datenlage allgemein nicht belegbar, wie effektiv eine Ausgangssperre ist. Virologe Christian Drosten spricht der Sperre im NDR-Podcast "Coronavirus-Update" am Freitag sogar ihren Nutzen ab:

"Es gibt keine wissenschaftlichen Daten, die sagen, dass man eine Ausgangssperre braucht. Es gibt Anfangsdaten zu all diesen Maßnahmen, aber am Ende sind all diese Dinge politische Entscheidungen."
Christian Drosten

Psychiater warnt ebenfalls vor Ausgangssperren

Psychiater Michael Huppertz begründete im Gespräch mit watson ebenfalls, warum er eine Ausgangssperre kontraproduktiv findet:

"Wir brauchen Abwechslung, Kommunikation, andere Themen, Natur, nicht Isolation, Grübeln und permanent schlechte Nachrichten. Nur zu Hause einsperren sollten wir uns nicht."
Michael Huppertz

Spaziergänge, auch gemeinsam mit anderen, hält Huppertz für in Ordnung – solange man körperlichen Abstand voneinander hält.

HAMBURG, GERMANY - MARCH 17: Pedestrians with face masks are seen after the Senate of Hamburg has released a decree to limit social life heavily on March 17, 2020 in Hamburg, Germany. Most of the shop ...
Noch gehen die Menschen raus. Wenn auch teils mit Mundschutz, wie hier in Hamburg.Bild: Getty Images Europe / Stuart Franklin

Die Schäden von Ausgangssperren sind zu groß, um sie in Kauf zu nehmen

Die Experten scheinen sich einig: Der Kollateralschaden einer vollständigen Ausgangssperre ist zu groß, um sie als flächendeckende Maßnahme zu fahren. Dass sich Politiker dennoch für eine Ausgangssperre entscheiden könnten, liegt laut Drosten an dem emotionalen Eindruck einer sehr hohen Zahl an Verstorbenen und eines überlasteten Gesundheitssystems.

"Wir laufen in diese Situation rein, wenn viele Menschen nicht verstehen und befolgen, dass man eben nicht mehr in die Öffentlichkeit geht – auch wenn man nicht gleich von der Polizei belangt wird, wenn man das tut", erklärt Drosten

Fasst man die in den letzten Wochen geäußerten Expertenmeinungen zusammen, helfen die bisher getroffenen Maßnahmen, sofern sie möglichst konsequent durchgeführt werden:

  • Hände häufig und mindestens 30 Sekunden lang gründlich waschen
  • "Social Distancing" – Abstand zueinander halten (mindestens 1,5 bis 2 Meter)
  • Gruppenansammlungen vermeiden

Ein gutes Beispiel, mit dem Coronavirus umzugehen, ist Südkorea

Wie das Virus auch ohne Ausgangssperren klein gehalten werden kann, zeigt Südkorea. Das Land hat es ohne den Shutdown geschafft. Über eine Viertelmillion Tests wurden durchgeführt, dazu wurden Drive-in-Teststationen eingerichtet, in denen die Menschen von ihrem Autositz aus getestet wurden. Das Ergebnis bekamen sie binnen 48 Stunden per SMS zugeschickt.

Die Stadt Daegu, Epizentrum Südkoreas, wurde dabei nicht abgeschottet. Umgehen konnten die Bürger die Krisenherde durch Benachrichtigungen per App auf ihrem Handy.

Gleichzeitig haben die südkoreanischen Behörden die Bewegungsdaten von Handys und anderen Mobilgeräten ausgewertet. Bewohner bestimmter Bezirke erhalten Textnachrichten, in denen sie auf die Bewegungen von Infizierten in ihrer Nähe hingewiesen werden. Die Daten sind anonym – und ihre Verwendung erspart es der Bevölkerung, weitreichende Einschnitte in ihr Privatleben hinnehmen zu müssen.

Maßnahmen wie in Südkorea sind zwar erfolgreich, allerdings in Deutschland nicht denkbar

Bewegungsprofile zu erstellen, wäre in Deutschland aus Datenschutzgründen nicht möglich. Die einzige Überlegung wäre, ob die Politiker angesichts der aktuellen Ausnahmesituation die Datenschutzbedingungen lockern wollen. Dass so eine Maßnahme umgesetzt wird, vor allem zeitnah, ist jedoch zu bezweifeln.

Auch die Testkapazitäten in Deutschland zu erhöhen, stellt sich als schwierig da. Verlässliche Schnelltests gegen das Coronavirus gibt es bisher noch nicht, Virologe Drosten rechnet erst ab Mai mit ihnen, wie er in seinem Podcast vom 10. März sagte. Zudem ist das medizinische Personal, das solche Tests durchführen müsste, aufgrund der aktuellen Lage teilweise bereits stark ausgelastet.

Realistischer wäre es, an das Solidaritätsgefühl der Menschen zu appellieren und trotz steigender Infektionszahlen die Wirkung bisher getroffener Maßnahmen abzuwarten, so schwer es auch fällt. Dass eine Ausgangssperre bundesweit verhängt wird, ist im Zweifelsfall dennoch eine Möglichkeit, sollte es auch in einigen Tagen noch zu einem drastischen Anstieg der Fallzahlen kommen.