Vier Monate nach den ersten Corona-Fällen in Deutschland haben Wissenschaftler die Ansteckungsketten der ersten Patientengruppe detailliert analysiert. Die Ergebnisse zeigen: Die Eindämmung der Pandemie könnte deutlich erschwert werden.
Am 28. Januar gab es den ersten offiziellen Corona-Fall in Deutschland. Eine Geschäftsreisende aus China brachte das Virus mit und steckte beim Autozulieferer Webasto einen 33-jährigen Kollegen an. Es folgte eine Reihe von Ansteckungen, die zunächst unbemerkt blieben. Deutsche Forscher haben die Infektionsketten nachvollzogen und wissen nun: Infizierte können bereits vor den ersten Symptomen ansteckend sein.
Die in der Fachzeitschrift "The Lancet Infectious Diseases" veröffentlichte Studie rekapituliert die Geschehnisse, die zur Ausbreitung von Covid-19 in Deutschland führten, detailliert. Der "Spiegel" hatte zuerst über die Studie berichtet.
Am 19. Januar reiste Patientin null per Flugzeug für drei Tage nach München, um Workshops zu geben und an Meetings teilzunehmen. Was sie nicht wusste: In sich trug sie ein Virus, das in China bereits eine Pandemie ausgelöst hatte und nun dabei war, sich in Europa und dem Rest der Welt auszubreiten. Es sollte später unter dem Namen Sars-CoV-2 bekannt werden.
Einige Tage vor ihrer Reise nach München waren die Eltern der Geschäftsfrau zu Besuch. Die Eltern stammen aus Wuhan, wo die Pandemie ihren Ursprung hatte. Auch sie wurden später positiv auf das Virus getestet. Doch weder Eltern noch Tochter zeigten anfänglich Symptome. So trat die Frau ihre Geschäftsreise nach Deutschland an, wo sie unfreiwillig zur Patientin null wurde.
Wie die Forscher berichten, hatte die Frau nach ihrer Landung ungewöhnliche Brust- und Rückenschmerzen und fühlte sich müde. Typische Covid-19-Symptome wie Fieber und Husten entwickelte sie allerdings erst nach ihrer Rückkehr nach Shanghai. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits vier Kollegen in Deutschland angesteckt. Diese wiederum verteilten das Coronavirus in der Firma und ihren Familien.
Insgesamt 16 Menschen infizierten sich ausgehend von der Frau aus China mit Covid-19. Aber nur zwei von ihnen hatten mit ihr engen Kontakt. Einer saß während einer Besprechung in einem zwölf Quadratmeter kleinen Raum direkt neben ihr und infizierte sich mutmaßlich auf diese Weise. Zwei andere Kollegen, die bei dem Meeting am gegenüberliegenden Tischende gesessen hatten, infizierten sich jedoch nicht.
Der zweite Infizierte traf die chinesische Geschäftsfrau in den drei Tagen mehrmals. Diese Person steckte – ohne Symptome zu zeigen – daraufhin in der Webasto-Kantine einen weiteren Patienten an und löste somit eine Kettenreaktion aus. Die beiden Personen saßen mit dem Rücken zueinander an verschiedenen Tischen, doch einer von ihnen drehte sich kurz um, um nach einem Salzstreuer zu fragen. Ein kurzer Kontakt, der für die Ansteckung wohl gereicht hat.
Erst durch diese Person konnte sich das Virus dann weitreichender ausbreiten, in der Firma und der fünfköpfigen Familie des Infizierten. Insgesamt infizierten sich in der Ansteckungskette um die Person aus der Kantine neun Personen. Am 27. Januar erfuhr Webasto vom positiven Befund der Frau aus China. Die Infizierten und insgesamt 241 Kontaktpersonen konnten daraufhin ermittelt und die Infektionskette gestoppt werden.
In mindestens einem dieser 16 untersuchten Fälle habe ein Infizierter das Coronavirus weitergegeben, bevor er Symptome hatte, berichten die Autoren in ihrer Studie. Möglicherweise traf dies sogar auf fünf weitere Fälle zu. In mindestens vier Fällen steckte ein Infizierter andere Menschen an jenem Tag an, an dem die Symptome gerade begannen. Fünf weitere Fälle könnten in diesen Zeitraum fallen.
Dass die Infektiösität noch vor Ausbruch der Symptome oder kurz danach erheblich sei, bedeute für Gesundheitsmaßnahmen eine riesige Herausforderung, so das Forscherteam. Zudem sei die Inkubationszeit, die durchschnittlich 4 Tage betrug, oft sehr kurz gewesen. "Eine globale Eindämmung von Covid-19 könnte schwer zu erreichen sein", betonen die Wissenschaftler.
Dies unterstreichen auch Jan Rybniker und Gerd Fätkenheuer von der Uniklinik Köln in einem "Lancet"-Kommentar:
Im Falle einer größeren Ausbreitung reiche die traditionelle Verfolgung von Kontakten nicht mehr aus. "Daher werden neue Technologien wie Kontaktverfolgungs-Apps dringend benötigt, um die Pandemie effektiv zu kontrollieren", betonen die Kölner Experten.
(lau/ mit Material von dpa)