Mecklenburg-Vorpommern, Greifswald: Krankenschwestern und Pflegekräfte arbeiten im besonders geschützten Teil der Intensivstation des Universitätsklinikums Greifswald mit Corona-Patienten.Bild: dpa / Jens Büttner
Deutschland
Vor den Bund-Länder-Beratungen am Montag über das
weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie fordern Mediziner wieder
schärfere Beschränkungen. Zugleich warnen sie vor einer Zuspitzung
der Lage im Gesundheitswesen. Aus der Wirtschaft kommen derweil
Forderungen nach einem Kurswechsel in der Corona-Politik.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Freitagabend auf die von Bund
und Ländern vereinbarte "Notbremse" ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von
100 hingewiesen. "Und wir werden leider auch von dieser Notbremse
Gebrauch machen müssen", sagte sie nach Beratungen mit den
Ministerpräsidenten zum weiteren Vorgehen beim Impfen. "Ich hätte mir
gewünscht, dass wir ohne diese Notbremse auskommen, aber das wird
nicht möglich sein, wenn ich mir die Entwicklung der letzten Tage
anschaue."
Sieben-Tage-Inzidenz nun bei 99,9
Die Gesundheitsämter meldeten dem Robert Koch-Institut (RKI)
innerhalb eines Tages 16.033 Corona-Neuinfektionen. Außerdem wurden
207 neue Todesfälle innerhalb von 24 Stunden im Zusammenhang mit dem
Coronavirus gemeldet, wie aus Zahlen des RKI vom Samstagmorgen
hervorgeht.
Am Samstag vergangener Woche hatte das RKI binnen eines
Tages 12.674 neue Fälle und 239 neue Todesfälle registriert. Die Zahl
der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000
Einwohner (Sieben-Tage-Inzidenz) lag laut RKI am Samstagmorgen
bundesweit bei 99,9 - und damit etwas höher als am Vortag (95,6).
Ärztin warnt: "Ich rechne ab Ostern mit einer noch kritischeren Lage als zum Jahreswechsel"
Die Chefin des Chefin des Ärzteverbandes Marburger Bund, Susanne
Johna, forderte: "Es muss definitiv die vereinbarte Notbremse gezogen
werden, da darf es keine Ausnahmen geben." Weiter sagte sie der
"Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstag): "Ich rechne ab Ostern mit
einer noch kritischeren Lage als zum Jahreswechsel." Der
Kapazitätspuffer auf den Intensivstationen "wird rasant
wegschmelzen", warnte sie. "Es war unverantwortlich, in die dritte
Welle und die Ausbreitung der Mutanten hinein auf diese Art zu
lockern. Dadurch droht den Kliniken nun die dritte Extremsituation
binnen eines Jahres", sagte Johna.
Auch von Intensivmedizinern kommen nachdrückliche Mahnungen. Die
bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz könne ohne Eingreifen sehr schnell
auf 200 steigen und zu deutlich höheren Intensivpatientenzahlen
führen. "Aus unserer Sicht kann es daher nur eine Rückkehr zum
Lockdown vom Februar geben", sagte der Präsident der Deutschen
Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
(Divi), Gernot Marx, der "Augsburger Allgemeinen" (Samstag). "Alles,
was man sich jetzt erlaubt, muss man später mit Zins und Zinseszins
bezahlen", warnte Marx.
Ministerpräsidenten deuten Rücknahme der Lockerungen an
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich räumte ebenfalls ein: "Bestimmte
Schritte müssen eventuell auch wieder zurückgenommen werden."
Allerdings sollte man nicht nur auf die Inzidenzwerte schauen, auch
andere Kriterien müssten berücksichtigt werden, sagte Mützenich der
"Rheinischen Post" (Samstag).
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne)
hatte ebenfalls betont, man müsse damit rechnen, "dass Dinge
zurückgenommen und verschärft werden". Thüringens Ministerpräsident
Bodo Ramelow (Linke) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Ohne
Kontaktnachverfolgung und ohne Testen bin ich nicht fürs Öffnen, da
bin ich für gar nichts." Thüringen hat bundesweit die höchste
Inzidenz.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte
der "Neuen Osnabrücker Zeitung", zu dem Stufenplan für Öffnungen
gehörten auch Schließungen, wenn es nötig sei. Dreyer will sich am
Montag beim Gipfel dafür einsetzen, "regionale Lösungen zu erproben".
In Modellkommunen oder Landkreisen mit einer Inzidenz unter 100, die
ein lückenloses Test- und Kontakterfassungssystem vorweisen können,
sollten Außengastronomie, Kultur und Einzelhandel für Kunden mit
einem tagesaktuellen Corona-Test öffnen können.
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD)
warf in den ARD-"Tagesthemen" die Frage auf, warum Menschen nach
Mallorca fliegen dürfen, nicht aber ein Ferienhaus oder eine
Ferienwohnung an der deutschen Küste nutzen können. Das führe zu
Unmut bei Bürgern und in der Tourismusbranche. Wenn Gastronomie und
Hotels dicht bleiben sollen, müsse die Bundesregierung für
zusätzliche Wirtschaftshilfen sorgen.
Wirtschaft fordert: "Das gegenwärtige Impfchaos muss schleunigst beendet werden, um weiteren Schaden abzuwenden"
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger mahnte eine stärkere Öffnung des
Wirtschaftslebens an. Dies sei dringend nötig, "denn wir sind jetzt
an einem Wendepunkt, wo vielen Betrieben die Puste ausgeht", sagte
der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
(BDA) der "Welt" (Samstag). "Diese perspektivlose Hinhaltepolitik
macht viele Betriebe und Beschäftigte nur noch hilflos und wütend."
Der Chef des Müncher Ifo-Instituts, Clemens Fuest, beklagte in der
"Augsburger Allgemeinen": "Ein Problem der Debatte und der aktuellen
Politik besteht darin, dass nur in den Alternativen Öffnung versus
Lockdown gedacht wird." Es fehle seit langer Zeit eine proaktivere
Politik im Corona-Management.
Der Bundesgeschäftsführer des Bundesverbandes mittelständische
Wirtschaft, Markus Jerger, schrieb in einem Brief an Kanzlerin
Merkel, ganze Branchen wie das Tourismus- und Gastronomiegewerbe oder
der Einzelhandel drohten auf Dauer wegzubrechen. "Das gegenwärtige
Impfchaos muss schleunigst beendet werden, um weiteren Schaden
abzuwenden", meint Jerger.
Impfgipfel: Hausärzte sollen Impfungen nach Ostern starten
Bund und Länder hatten sich am Freitag über das weitere Vorgehen beim
Impfen verständigt. So sollen die Hausärzte unmittelbar nach Ostern
routinemäßig Schutzimpfungen gegen das Coronavirus übernehmen. Die
Impfzentren sollten künftig verlässlich 2,25 Millionen Dosen pro
Woche bekommen - die darüber hinaus gehende Menge werde an die
Arztpraxen gehen. Vereinbart wurden zudem zusätzliche Impfdosen für
vier Bundesländer mit Außengrenzen zu Frankreich und Tschechien sowie
für das grenznahe Thüringen.
Die Hausärzte sind unzufrieden mit dem Beschluss. "Wir stehen zum
Impfen bereit - und wollen keine Resterampe werden", sagte der
Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt,
den Zeitungen der Funke Mediengruppe. In einem ARD-"Extra"
kritisierte er, die Impfzentren würden privilegiert, die Menschen
würden sicher aber lieber beim Hausarzt impfen lassen. "Wir haben 50.000 kleine Impfzentren", betonte der Verbandschef. Der Vorsitzende
der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, forderte in den
Funke-Zeitungen, in den nächsten Monaten sollten bei Hausärzten
ausschließlich die über 70-Jährigen geimpft werden.
(hau/dpa)