Selbst Angela Merkel spricht sich nun für Lockerungen aus. Bild: ap / John MacDougall
Deutschland
Selbst Angela Merkel kann sich dem Druck nicht mehr
völlig entziehen. Nach dem wochenlangen Corona-Lockdown würden
Lockerungen "sehnlichst gewünscht", auch sie selbst halte Öffnungen
für notwendig, sagt die Kanzlerin am Dienstag nach Teilnehmerangaben
in einer Online-Sitzung der Unionsfraktion. Und sie kündigt für die
Bund-Länder-Beratungen am Mittwoch an, was sich zuletzt immer klarer
herauskristallisiert hatte: eine vorsichtige Öffnungsstrategie, meist
entlang regionaler Corona-Zahlen, aber immer mit einer "Notbremse".
Man werde "mehr regionalisieren, um mehr Freiheit zu ermöglichen". Es
ist ein schmaler Grat zwischen Öffnungen und drohender dritter Welle.
Einem Beschlussentwurf zufolge soll der Lockdown zwar grundsätzlich
bis 28. März verlängert werden. Doch schon ab kommender Woche könnten
wieder Treffen des eigenen mit einem weiteren Haushalt möglich sein,
beschränkt auf fünf Personen, Kinder bis 14 Jahre nicht mitgezählt.
Zudem sieht das Papier schrittweise Öffnungen zahlreicher Bereiche
vom Einzelhandel bis zu Sport und Kultur vor, allerdings immer
abhängig von den aktuellen Zahlen. Ein entscheidender Punkt bei den
Öffnungen soll eine umfangreiche Teststrategie sein.
Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten müssen zwei
Herausforderungen begegnen: Einerseits hat das Sinken der
Corona-Zahlen in den vergangenen Wochen breite Hoffnungen und
Erwartungen auf ein schrittweises Ende des Lockdowns geweckt.
Andererseits sind die Zahlen in den vergangenen Tagen wieder
angestiegen, auch wegen der Virus-Varianten. In diesem Spannungsfeld
müssen Bund und Länder entscheiden. "Im Detail wird das sicherlich
noch ganz schön kompliziert", sagt Merkel selbst voraus.
Die aktuellen Corona-Zahlen:
Erst war der Corona-Abwärtstrend gestoppt, inzwischen sieht das
Robert-Koch-Institut (RKI) einen leichten Anstieg der Fallzahlen. Der
Virologe Christian Drosten sagte kürzlich im "F.A.Z. Podcast für
Deutschland", Deutschland stehe am Beginn der dritten Welle. Einige
Wissenschaftler halten das Erreichen der zuletzt angestrebten
Inzidenz von 35 aktuell für nicht mehr realistisch. Die Gründe dafür
sind in einer Lage zu sehen, die Experten mit einem Wettlauf
vergleichen: zwischen den bisher eher langsam ablaufenden Impfungen
und der raschen Ausbreitung der ansteckenderen Virusvarianten.
Vor allem geht es um die in Großbritannien entdeckte Mutante B.1.1.7,
die nach konservativen Schätzungen gut ein Drittel ansteckender ist
als frühere Corona-Formen. Drosten schätzt deren Anteil an den
Infektionen in Deutschland inzwischen auf ungefähr die Hälfte -
Merkel hatte sich bei den Beratungen der Unionsfraktion ähnlich
geäußert. Dieser Anteil werde weiter steigen, das sei unausweichlich,
sagte er im Podcast "Coronavirus-Update" bei NDR-Info vom Dienstag.
Lockerungen bedeuten daher wohl das Risiko, dass die Fallzahlenkurve
wieder steil nach oben geht.
Rufe nach längerem Lockdown:
Die Fachgesellschaft der Intensivmediziner Divi fordert, bis Anfang
April im Lockdown zu bleiben. Deutschland müsse mit dem Impfen
deutlich vorankommen, bevor die ansteckendere Mutante durchstartet,
hieß es zu Erkenntnissen aus einem Prognosemodell. Im schlimmsten
Fall könnten Lockerungen im März demnach dazu führen, dass Mitte Mai
bis zu 25 000 Intensivpatienten durch Covid-19 zu versorgen wären,
eine nicht mehr zu bewältigende Anzahl. Nicht berücksichtigt ist in
der Berechnung die offene Frage, ob die wärmere Jahreszeit die
Ansteckungsfähigkeit der Mutante möglicherweise dämpft.
Charité-Fachmann Drosten machte zuletzt wenig Hoffnungen auf größere
Saisoneffekte. Er warnt vielmehr vor einem Szenario mit einer
Vielzahl an schweren Verläufen - sollte zu stark gelockert werden,
bevor die 23 Millionen Menschen umfassende Gruppe der 40- bis
60-Jährigen ausreichend geimpft ist. Das könne auch der Wirtschaft
schaden, durch hohe Krankenstände etwa.
Rufe nach Öffnungen:
Immer mehr Menschen wünschen sich eine Lockerung des Lockdowns: Laut
einer jüngsten Umfrage des Instituts YouGov im Auftrag der dpa ist
nur noch gut ein Drittel der Befragten für eine Beibehaltung (26
Prozent) oder Verschärfung (9 Prozent) der Corona-Beschränkungen. 43
Prozent meinen dagegen, der Lockdown sollte weiter gelockert werden.
17 Prozent sind für eine komplette Rückkehr zur Normalität.
Politik unter Druck:
Auch die Ministerpräsidenten spüren den zunehmenden Erwartungsdruck
der Bevölkerung, aus ihren eigenen Parteien oder von etwaigen
Koalitionspartnern. Selbst Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU),
sonst als einer der schärfsten Anti-Corona-Kämpfer immer eng an der
Seite der Kanzlerin, ließ nun als einer der ersten Baumärkte öffnen.
Einerseits warnen Kanzlerin und Ministerpräsidenten also vor den
Gefahren einer dritten Welle. Es dürfe keinen "Öffnungsrausch" geben,
die Politik dürfe nicht die Nerven verlieren, mahnt etwa Söder.
Andererseits gibt es quasi keinen, der nicht sieht, dass es zumindest
konkretere Pläne als bisher für die kommenden Wochen braucht. "Nach
vier Monaten des Lockdowns brauchen die Menschen, brauchen die
Unternehmen Perspektiven", schrieb NRW-Ministerpräsident und CDU-Chef
Armin Laschet am Dienstag in einem Blog von Unternehmensverbänden.
Was am Mittwoch am Ende herauskommen könnte:
Neben einer ersten Lockerung der Kontaktbeschränkungen schon vom
kommenden Montag (8. März) an könnte es dem Beschlussentwurf zufolge
stufenweise weitere Öffnungen geben: Erst überall Buchhandlungen,
Blumengeschäfte und Gartenmärkte. Dann, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz
in einem Land oder regional stabil unter 35 liegt, Einzelhandel,
Museen, Galerien, zoologische und botanische Gärten und kontaktfreier
Sport in kleinen Gruppen im Außenbereich.
Anschließend, wenn sich die
Sieben-Tage-Inzidenz in einem Land oder in einer Region 14 Tage nach
dem vorangegangenen Öffnungsschritt nicht verschlechtert hat, die
Außengastronomie, Theater, Konzert- und Opernhäuser sowie Kinos.
Doch die bislang avisierte 35er-Grenze könnte am Ende aufgeweicht
werden: Möglicherweise könnte es - so jedenfalls der Beschlussentwurf
- auch dann Öffnungen geben, wenn die Inzidenzen regional über 35
liegen. Dann aber unter Bedingungen: nur mit festen Terminen etwa im
Handel und anderswo mit einem tagesaktuellen negativen Corona-Test.
Und: Es ist eine "Notbremse" geplant - also ein Zurück zum jetzigen
Lockdown, wenn die Corona-Zahlen regional wieder deutlich steigen.
Offen aber war zunächst, wo die jeweiligen Inzidenz-Grenzen gezogen
werden, fürs Öffnen unter Bedingungen und für die "Notbremse".
Endgültig entschieden wird am Mittwoch ohnehin erst ganz am Ende.
Testen, testen, testen:
Wenn die bei der vergangenen Bund-Länder-Runde avisierte 35er-Grenze
für Lockerungen auf breiter Front nun aufgegeben wird, soll dies
unter anderem unter einer Bedingung passieren: wenn viel mehr
getestet wird. Unternehmen sollen demnach ihren Beschäftigten
mindestens einen oder sogar zwei kostenlose Schnelltests pro Woche
anbieten, die Länder dem Personal in Schulen und Kitas "sowie alle
Schülerinnen und Schüler", und auch alle anderen Bürgern sollen einen
oder zwei Tests pro Woche bekommen.
Tatsächlich sehen Fachleute Schnelltests als eine Maßnahme zum
Gegenhalten. Über Simulationsergebnisse zu den Effekten sagte der
Mobilitätsforscher Kai Nagel (TU Berlin): "Ein breiter Einsatz in der
Bevölkerung mit zwei Schnelltests für jeden pro Woche würde uns
ersparen, den Lockdown restriktiver zu machen." Zu erwarten sei dann
eine sehr deutliche, positive Wirkung auf die Fallzahlen.
(hau/dpa)