Selbst Angela Merkel kann sich dem Druck nicht mehr völlig entziehen. Nach dem wochenlangen Corona-Lockdown würden Lockerungen "sehnlichst gewünscht", auch sie selbst halte Öffnungen für notwendig, sagt die Kanzlerin am Dienstag nach Teilnehmerangaben in einer Online-Sitzung der Unionsfraktion. Und sie kündigt für die Bund-Länder-Beratungen am Mittwoch an, was sich zuletzt immer klarer herauskristallisiert hatte: eine vorsichtige Öffnungsstrategie, meist entlang regionaler Corona-Zahlen, aber immer mit einer "Notbremse". Man werde "mehr regionalisieren, um mehr Freiheit zu ermöglichen". Es ist ein schmaler Grat zwischen Öffnungen und drohender dritter Welle.
Einem Beschlussentwurf zufolge soll der Lockdown zwar grundsätzlich bis 28. März verlängert werden. Doch schon ab kommender Woche könnten wieder Treffen des eigenen mit einem weiteren Haushalt möglich sein, beschränkt auf fünf Personen, Kinder bis 14 Jahre nicht mitgezählt. Zudem sieht das Papier schrittweise Öffnungen zahlreicher Bereiche vom Einzelhandel bis zu Sport und Kultur vor, allerdings immer abhängig von den aktuellen Zahlen. Ein entscheidender Punkt bei den Öffnungen soll eine umfangreiche Teststrategie sein.
Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten müssen zwei Herausforderungen begegnen: Einerseits hat das Sinken der Corona-Zahlen in den vergangenen Wochen breite Hoffnungen und Erwartungen auf ein schrittweises Ende des Lockdowns geweckt. Andererseits sind die Zahlen in den vergangenen Tagen wieder angestiegen, auch wegen der Virus-Varianten. In diesem Spannungsfeld müssen Bund und Länder entscheiden. "Im Detail wird das sicherlich noch ganz schön kompliziert", sagt Merkel selbst voraus.
Erst war der Corona-Abwärtstrend gestoppt, inzwischen sieht das Robert-Koch-Institut (RKI) einen leichten Anstieg der Fallzahlen. Der Virologe Christian Drosten sagte kürzlich im "F.A.Z. Podcast für Deutschland", Deutschland stehe am Beginn der dritten Welle. Einige Wissenschaftler halten das Erreichen der zuletzt angestrebten Inzidenz von 35 aktuell für nicht mehr realistisch. Die Gründe dafür sind in einer Lage zu sehen, die Experten mit einem Wettlauf vergleichen: zwischen den bisher eher langsam ablaufenden Impfungen und der raschen Ausbreitung der ansteckenderen Virusvarianten.
Vor allem geht es um die in Großbritannien entdeckte Mutante B.1.1.7, die nach konservativen Schätzungen gut ein Drittel ansteckender ist als frühere Corona-Formen. Drosten schätzt deren Anteil an den Infektionen in Deutschland inzwischen auf ungefähr die Hälfte - Merkel hatte sich bei den Beratungen der Unionsfraktion ähnlich geäußert. Dieser Anteil werde weiter steigen, das sei unausweichlich, sagte er im Podcast "Coronavirus-Update" bei NDR-Info vom Dienstag. Lockerungen bedeuten daher wohl das Risiko, dass die Fallzahlenkurve wieder steil nach oben geht.
Die Fachgesellschaft der Intensivmediziner Divi fordert, bis Anfang April im Lockdown zu bleiben. Deutschland müsse mit dem Impfen deutlich vorankommen, bevor die ansteckendere Mutante durchstartet, hieß es zu Erkenntnissen aus einem Prognosemodell. Im schlimmsten Fall könnten Lockerungen im März demnach dazu führen, dass Mitte Mai bis zu 25 000 Intensivpatienten durch Covid-19 zu versorgen wären, eine nicht mehr zu bewältigende Anzahl. Nicht berücksichtigt ist in der Berechnung die offene Frage, ob die wärmere Jahreszeit die Ansteckungsfähigkeit der Mutante möglicherweise dämpft.
Charité-Fachmann Drosten machte zuletzt wenig Hoffnungen auf größere Saisoneffekte. Er warnt vielmehr vor einem Szenario mit einer Vielzahl an schweren Verläufen - sollte zu stark gelockert werden, bevor die 23 Millionen Menschen umfassende Gruppe der 40- bis 60-Jährigen ausreichend geimpft ist. Das könne auch der Wirtschaft schaden, durch hohe Krankenstände etwa.
Immer mehr Menschen wünschen sich eine Lockerung des Lockdowns: Laut einer jüngsten Umfrage des Instituts YouGov im Auftrag der dpa ist nur noch gut ein Drittel der Befragten für eine Beibehaltung (26 Prozent) oder Verschärfung (9 Prozent) der Corona-Beschränkungen. 43 Prozent meinen dagegen, der Lockdown sollte weiter gelockert werden. 17 Prozent sind für eine komplette Rückkehr zur Normalität.
Auch die Ministerpräsidenten spüren den zunehmenden Erwartungsdruck der Bevölkerung, aus ihren eigenen Parteien oder von etwaigen Koalitionspartnern. Selbst Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU), sonst als einer der schärfsten Anti-Corona-Kämpfer immer eng an der Seite der Kanzlerin, ließ nun als einer der ersten Baumärkte öffnen.
Einerseits warnen Kanzlerin und Ministerpräsidenten also vor den Gefahren einer dritten Welle. Es dürfe keinen "Öffnungsrausch" geben, die Politik dürfe nicht die Nerven verlieren, mahnt etwa Söder. Andererseits gibt es quasi keinen, der nicht sieht, dass es zumindest konkretere Pläne als bisher für die kommenden Wochen braucht. "Nach vier Monaten des Lockdowns brauchen die Menschen, brauchen die Unternehmen Perspektiven", schrieb NRW-Ministerpräsident und CDU-Chef Armin Laschet am Dienstag in einem Blog von Unternehmensverbänden.
Neben einer ersten Lockerung der Kontaktbeschränkungen schon vom kommenden Montag (8. März) an könnte es dem Beschlussentwurf zufolge stufenweise weitere Öffnungen geben: Erst überall Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte. Dann, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Land oder regional stabil unter 35 liegt, Einzelhandel, Museen, Galerien, zoologische und botanische Gärten und kontaktfreier Sport in kleinen Gruppen im Außenbereich.
Anschließend, wenn sich die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Land oder in einer Region 14 Tage nach dem vorangegangenen Öffnungsschritt nicht verschlechtert hat, die Außengastronomie, Theater, Konzert- und Opernhäuser sowie Kinos.
Doch die bislang avisierte 35er-Grenze könnte am Ende aufgeweicht werden: Möglicherweise könnte es - so jedenfalls der Beschlussentwurf - auch dann Öffnungen geben, wenn die Inzidenzen regional über 35 liegen. Dann aber unter Bedingungen: nur mit festen Terminen etwa im Handel und anderswo mit einem tagesaktuellen negativen Corona-Test.
Und: Es ist eine "Notbremse" geplant - also ein Zurück zum jetzigen Lockdown, wenn die Corona-Zahlen regional wieder deutlich steigen. Offen aber war zunächst, wo die jeweiligen Inzidenz-Grenzen gezogen werden, fürs Öffnen unter Bedingungen und für die "Notbremse". Endgültig entschieden wird am Mittwoch ohnehin erst ganz am Ende.
Wenn die bei der vergangenen Bund-Länder-Runde avisierte 35er-Grenze für Lockerungen auf breiter Front nun aufgegeben wird, soll dies unter anderem unter einer Bedingung passieren: wenn viel mehr getestet wird. Unternehmen sollen demnach ihren Beschäftigten mindestens einen oder sogar zwei kostenlose Schnelltests pro Woche anbieten, die Länder dem Personal in Schulen und Kitas "sowie alle Schülerinnen und Schüler", und auch alle anderen Bürgern sollen einen oder zwei Tests pro Woche bekommen.
Tatsächlich sehen Fachleute Schnelltests als eine Maßnahme zum Gegenhalten. Über Simulationsergebnisse zu den Effekten sagte der Mobilitätsforscher Kai Nagel (TU Berlin): "Ein breiter Einsatz in der Bevölkerung mit zwei Schnelltests für jeden pro Woche würde uns ersparen, den Lockdown restriktiver zu machen." Zu erwarten sei dann eine sehr deutliche, positive Wirkung auf die Fallzahlen.
(hau/dpa)