Der Innenminister brauchte offenbar dringend eine Erklärung. In der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" sprach Horst Seehofer über den antisemitisch motivierten Anschlag auf eine Synagoge. Zwei Menschen starben dabei, das ganze Land stand unter Schock. Und deswegen suchte auch Seehofer nach Antworten. Potentielle Täter könnten auch aus der Gamer-Szene kommen und man müsse diese entsprechend strenger beobachten, so der Minister. Es dauerte nur Minuten, bis das Internet spottete.
Unter #gamerszene schrieb etwa FDP-Politiker Konstantin Kuhle: "Die Neunziger haben angerufen, sie wollen ihre Killerspieldebatte zurück." Er sieht das Problem beim digitalen Rechtsextremismus. Doch wieso radikalisieren sich Menschen im Internet – und geht von Videospielen wirklich eine Gefahr aus?
Über diese Fragen haben wir mit dem Medienpsychologen Christian Roth gesprochen. Unter anderem untersucht er, wie sich Games und andere interaktive Medien auf Menschen auswirken.
Watson: Ist an Seehofers Aussage zur Gamerszene etwas dran?
Christian Roth: Es ist unsinnig, Computerspieler unter Generalverdacht zu stellen. Die Szene, die man sich genau ansehen muss, ist die rechtsradikale. Diese macht sich allerdings das Internet und damit auch Spiele und Spieleplattformen zunutze – sowie sie sich auch an anderen Subkulturen andockt. Bei mehreren Millionen Spielerinnen und Spielern ist klar, dass sich darunter auch Rassisten und Rechtsradikale befinden können.
Es heißt, der Täter in Halle habe sich im Internet radikalisiert. Wie kann das passieren?
Neben der Persönlichkeit ist entscheidend, welchen sozialen Umgang ein Mensch hat. Selbstbewusstsein spielt ebenfalls eine Rolle. Internetforen können zum neuen Bezugsort werden, insbesondere wenn sonstige soziale Kontakte und Selbstbewusstsein fehlen. Im Fall von Halle war der Täter etwa auf 4chan aktiv.
Was passiert dort?
Es gibt hier politische Boards, auf denen jeder ungefiltert sagen kann, was er will. Dadurch entsteht erstmal ein vermeintlich ehrlicher Raum, in dem viele einen Humor an den Tag legen, der besonders kontrovers ist. Rassistische Witze werden dort von Userinnen und Usern häufig mit positivem Feedback belohnt, wodurch die betreffenden Personen Bestätigung erfahren, die sie ansonsten nicht bekommen. So können sich natürlich neue Gedankenstrukturen bilden.
Und das setzt sich dann fort?
Ja, Witze, in denen sich jemand gezielt über andere Kulturen stellt, entwickeln sich zu einem realen Überlegenheitsgefühl. Dieser Abwärtsvergleich ist allerdings nichts Neues. Menschen schauen sich beispielsweise Serien über gescheiterte Existenzen an, nur um sich im Vergleich besser zu fühlen. Allerdings ist es innerhalb rassistischer Foren wesentlich intensiver.
Intensiver?
Schreibt jemand etwa, dass Ausländer nichts wert seien und erhält dafür Zustimmung, wird der Kommentierende in seiner Haltung direkt bestärkt, fühlt sich zugehörig, anerkannt und bestätigt. Erklären lässt sich das unter anderem mit der Selbstbestimmungstheorie.
Was meinen Sie damit?
Jeder Mensch hat drei angeborene Grundbedürfnisse: Die soziale Zugehörigkeit, das Erfahren von Kompetenz und das Erfahren von Autonomie. Wird man beispielsweise eingesperrt, oder empfindet keine Kontrolle über das eigene Leben, verliert man die Autonomie. Gilt man als nicht kompetent, fühlt man sich als Verlierer. Und fehlende soziale Zugehörigkeit macht einen zum Außenseiter. Diese drei Bedürfnisse können in Internetforen befriedigt werden.
Und ab welchem Punkt wird das kritisch?
Sobald soziale Anerkennung mit demokratiegefährdenden, rassistischen Ideologien einhergeht. Manchen reicht die Bestätigung für ihre Aussagen irgendwann nicht mehr – sie wollen als Held gefeiert werden und sind bereit, weiter Grenzen zu überschreiten.
Wann sollte man alarmiert sein?
Sobald jemand postet, dass er Waffen oder Bomben bastelt – oder nach Anleitungen fragt. Problematisch dabei ist, dass bei Insiderforen und geschlossenen Communities die anderen User nur in den seltensten Fällen die Polizei informieren. Das allein verdeutlicht der Vorfall in Halle: Der Täter schaltete einen Live-Stream auf Twitch und hatte sogar fünf Zuschauer. Soweit ich weiß, griff keiner von ihnen zum Hörer, um die Polizei zu rufen.
Jetzt spricht der Bundesinnenminister auch davon, Gamer- und Internetplattformen strenger zu überwachen. Bei Millionen Internetnutzern könnte das jedoch schwer werden. Ist es überhaupt möglich, potentielle Täter bereits im Voraus ausfindig zu machen?
Es wurde bereits diskutiert, dass Plattformbetreiber schneller gegen Hasskommentare vorgehen müssen. Internetseiten wie 4chan sind leider so geschaffen, dass sie den Nutzern große Freiheit bieten – Moderation findet nur sehr eingeschränkt statt. Anders als bei Facebook verschwinden bei 4chan Inhalte nach einer Weile. Zudem sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anonym, was die Verfolgung erschwert.
Was ist mit der Community selbst?
Sie hat einen besseren Überblick als Außenstehende, möchte aber meist keine Veränderung. Hier sollte man aber ansetzen: Die Online- und Spielecommunities müssen sich deutlich gegen Nazis und Diskriminierung aussprechen.
Aber wenn rechte Communities in Foren ausgeschlossen werden, suchen sie sich doch einfach eine neue Plattform. Wäre es nicht besser, vorzubeugen?
Natürlich wäre Prävention am sinnvollsten. Schließlich äußern sich bereits in der Schule erste Warnsignale wie soziale Abschottung oder ein erhöhtes Aggressionspotential. In dem Fall können Lehrerinnen und Lehrer eingreifen und versuchen, die Ursachen zu bekämpfen.
Gruppenbeschäftigungen wie Arbeitsgemeinschaften in Schulen könnten etwa helfen.
Neben Lehrern sind auch Eltern gefragt.
Ja, die naheliegendste und zugleich schwierigste Lösung wäre darauf zu achten, dass Menschen nicht vereinsamen und sich zurückziehen. Generell sollten Eltern, Lehrer und Mitschüler darauf achten, dass Kinder und Jugendliche nicht ausgeschlossen und gemobbt werden. Genauso wichtig ist es, mehr Menschlichkeit und Mitgefühl zu vermitteln. Schließlich basieren fremdenfeindliche Ideologien oft auf einem Mangel an beidem.