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Lauterbach macht Laschet Vorwürfe nach Corona-Ausbruch bei Tönnies: "Darf nicht sein"

Mediziner Karl Lauterbach (SPD).
Mediziner Karl Lauterbach (SPD).Bild: imago images/Reiner Zensen
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Lauterbach macht Laschet Vorwürfe nach Corona-Ausbruch: "Nicht rechtzeitig gehandelt"

18.06.2020, 17:2419.06.2020, 16:46
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Die Fleischindustrie steht erneut in der Kritik: In einer Schlachterei von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück, Nordrhein-Westfalen, wurden mehr als 650 Mitarbeiter positiv auf das Virus getestet. Auf die Frage, ob der Ausbruch mit möglichen Lockerungsmaßnahmen in NRW zusammenhänge, reagierte Ministerpräsident Armin Laschet von der CDU mit einer unglücklich formulierten Nahelegung: Möglicherweise hätten Gastarbeiter aus Rumänien oder Bulgarien das Virus eingeschleppt.

Gesundheitsexperte Karl Lauterbach von der SPD hingegen sieht hingegen Versäumnisse bei der Regierung Nordrhein-Westfalens: In Interview mit watson plädiert er dafür, dass Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) dringend für bessere Arbeitsbedingungen in NRWs Schlachtereien sorgen sollte – und wir Fleischproduktion generell neu denken müssen, um sie gerechter zu machen. Außerdem erklärt der Mediziner, wie Menschen in Armut stärker von gesundheitlichen Risiken bedroht sind.

"Egal wo das Virus letztlich herkommt: Dass es sich so schnell unter den Mitarbeitern verbreiten konnte, liegt an der Fleischindustrie selbst."

watson: Am Mittwoch sorgte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) mit einer Aussage für Kritik, weil er nahelegte, Gastarbeiter aus Rumänien und Bulgarien hätten das Virus mitgebracht. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?

Karl Lauterbach: Es ist unklar, ob Gastarbeiter aus Rumänien oder Bulgarien das Virus mitgebracht haben. Darum geht es allerdings auch nicht: Die Tatsache, dass sich das Virus so schnell ausbreiten konnte, ist offensichtlich den Arbeitsbedingungen bei Tönnies geschuldet, die die Übertragung von Krankheitserregern begünstigt haben müssen. Egal wo das Virus letztlich herkommt: Dass es sich so schnell unter den Mitarbeitern verbreiten konnte, liegt an der Fleischindustrie selbst.

Was meinen Sie damit?

Wir konnten beobachten, dass Schlachtbetriebe generell häufig von Corona-Ausbrüchen betroffen waren, auch in den USA beispielsweise. Das könnte daran liegen, dass in diesen Betrieben auf besonders engem Raum körperlich sehr schwer gearbeitet und dementsprechend auch schwer geatmet wird. Auch die kühle Temperatur der Betriebe könnte eine Rolle bei der Übertragung spielen, denn bei Kälte überlebt das Coronavirus länger. Eine schlechte Belüftung könnte ebenfalls ein Problem darstellen, weil die Krankheitserreger dann über Aerosole gleichmäßig im Raum verbreitet werden können. Wie genau sich Mitarbeiter in dieser Branche allerdings anstecken konnten, ist noch nicht endgültig bewiesen und wird derzeit intensiv untersucht.

"Es darf nicht sein, dass Laschet das Problem jetzt wieder benennt, aber nicht löst."

Nun ist der Fall Tönnies nicht der erste Corona-Ausbruch in einer Schlachterei in Nordrhein-Westfalen. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Worte des Ministerpräsidenten?

Es darf nicht sein, dass Laschet das Problem jetzt wieder benennt, aber nicht löst. Mit seiner Aussage zeigt er ins Ausland und lenkt von der Verantwortung NRWs bei der Kontrolle dieser Betriebe ab. Er müsste nun klarmachen, dass die Arbeitsbedingungen, die bei Tönnies und anderen Schlachtereien vorherrschen, nach Abklingen der Ausbrüche tatsächlich verbessert werden.

Liegt es denn wirklich an den Arbeitsbedingungen, dass sich Krankheitserreger ungehindert vermehren können – oder eher an den Unterkünften der Gastarbeiter, in denen teils katastrophale Zustände herrschen?

Das könnte sein. Ich glaube allerdings, dass die Wahrscheinlichkeit, sich in den Betrieben selbst zu infizieren, tatsächlich größer ist. In den Schlachtbetrieben kommen letztlich viele Risikofaktoren zusammen: Neben der schweren Arbeit auf engem Raum können sicherlich auch die Unterbringung in Gruppen sowie gemeinsame Busfahrten zu den Arbeitsorten zu einem erhöhten Ansteckungsrisiko beitragen.

"Der Billigfleischkonsum ist ein allgemeines Problem in Deutschland und aus vielen Gründen nicht hinzunehmen."

Wir sehen, dass die jüngsten Ausbrüche vor allem Menschen in prekären Situationen treffen. Wer hat das zu verantworten?

Was die Fleischindustrie betrifft, sehe ich uns alle in der Verantwortung. Das Billigfleisch, die Massenproduktion, der Über-Konsum – das ist einfach kein sauberes Geschäftsmodell und begünstigt Risikofaktoren für Mitarbeiter dieses Industriezweigs. Das müssen wir dringend etwas tun und von dieser Art der Fleischproduktion wegkommen: Denn der Billigfleischkonsum ist ein allgemeines Problem in Deutschland und aus vielen Gründen nicht hinzunehmen. Die Corona-Infektionen in Schlachtereien bringen vor diesem Hintergrund lediglich das Fass zum Überlaufen.

Müsste Fleisch teurer werden, um solche Missstände in Zukunft zu vermeiden?

Ich glaube, dass wir vor allem viel weniger Fleisch konsumieren müssten und die Produktion auf diese Weise regulieren. Die Massenproduktion von Fleisch bringt einfach nur Nachteile mit sich auf sämtlichen Ebenen – gesundheitlich, ökologisch und sozial. Die Fleischproduktion ist eine Industrie, die eigentlich nur Risiken bündelt und die wir aus meiner Sicht so nicht dulden sollten.

"Laschet hat da nicht rechtzeitig gehandelt."

Die Regierung hat nach den jüngsten Corona-Ausbrüchen Werkverträge in der Fleischindustrie verboten. Aber offensichtlich gibt es ja noch weitere Ansteckungen. Wie kann das sein?

Da die meisten Corona-Ausbrüche in NRW waren, zeigt sich: Laschet hat da nicht rechtzeitig gehandelt. Die Werksverträge haben weiterhin Bestand. Und es spricht ja Bände, dass die Schweine, die während der ersten Ausbrüche in der Tönnies-Fabrik angeliefert worden sind, noch klassisch weiterverarbeitet wurden. Generell gilt: Billigfleisch mit Tierquälerei für eine insgesamt ungesunde Ernährung ist nicht wirklich zukunftsweisend. Der Name Tönnies steht quasi symbolhaft für diese rückschrittliche Fleischindustrie.

Eine Studie der Uniklinik Düsseldorf und der AOK sagt aus, Hartz-IV-Empfänger hätten ein 84 Prozent höheres Risiko, wegen Corona im Krankenhaus behandelt zu werden. Hat die Politik versäumt, Langzeitarbeitslose vor Corona zu schützen?

Einen perfekten Schutz kann man diesen Menschen nicht bieten. Aber wir hätten uns von Anfang an mehr kümmern müssen. Zum Beispiel hätten rechtzeitig mehr Testkapazitäten geschaffen werden müssen auch für Menschen, die keine Symptome zeigen oder die zu Risikogruppen gehören. Wir hätten darauf bestehen müssen, dass Einkommensschwäche mit Risikofaktoren früher und kostenlos hätten getestet werden müssen. Auch sind immer noch nicht genügend qualitativ hochwertige und günstige Schutzmasken vorhanden, die man Menschen in Armut zur Verfügung stellen könnte. Im Endeffekt haben wir ärmere Menschen nicht gezielt genug unterstützt in der Bewältigung der Pandemie.

"Einkommensschwache sind leider die großen Verlierer der Pandemie."

Was können wir nun akut tun, um Menschen in prekären Lebenslagen gesundheitlich zu schützen?

Einkommensschwache sind leider die großen Verlierer der Pandemie: Sie verlieren am ehesten ihre Jobs, wenn sie wieder arbeiten, werden sie am ehesten unter riskanten Bedingungen wieder tätig sein und Einkommenseinbußen haben. Sie werden es auch am schwersten haben, wieder Arbeit zu finden. Durch die Corona-Pandemie werden die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch verstärkt, die es beklagenswerterweise nach wie vor in Deutschland gibt.

Corona-Tests müssten kostenlos und für alle verfügbar sein. Und gleichzeitig sollten wir an die Gesellschaft appellieren, die Corona-Warn-App zu nutzen und sie auch zugänglich zu machen für Menschen, die kein oder nur ein altes Handy haben. Da müssen wir uns überlegen, ob es Möglichkeiten gibt, diese Menschen auszurüsten, damit sie die App auch tatsächlich verwenden können.

Während in Schlachtereien und Brennpunktvierteln gerade die Corona-Zahlen steigen, fliegen die ersten Touristen aus Deutschland wieder nach Mallorca. Ist das nicht ironisch?

Aus meiner Sicht sind diese Reisen nicht empfehlenswert, aber das kann man gegen die Maßnahmen, die wir für Hartz-IV-Empfänger oder Einkommensschwache umsetzen müssen, nicht aufwiegen. Ich persönlich würde so eine Vergnügungsreise nun nicht antreten, weil die Flüge überfüllt zu sein scheinen, die Menschen sich an einem Party-Ort wie Mallorca auch auf sehr engem Raum begegnen und oftmals auch risikobereiter sind. Da bleibe ich lieber zu Hause.

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