
Polizeiaufgebot am Eckensee in Stuttgart Ende Juni. Dort war die Keimzelle der Krawalle vom Samstag zuvor.Bild: www.imago-images.de / ARNULF HETTRICH
Deutschland
Ermittler fragen zu einigen Verdächtigen der Stuttgarter Krawallnacht bei Standesämtern die Nationalität der Eltern ab. Eine Selbstverständlichkeit, sagt der Innenminister. Doch die Kritik ist heftig.
12.07.2020, 18:5813.07.2020, 14:03
Bei ihren Ermittlungen zur Stuttgarter Krawallnacht
nimmt die Polizei auch das Umfeld der Verdächtigen und deren
familiären Hintergrund unter die Lupe – und löst damit bundesweit
heftige Kritik aus. Die Polizei bestätigte am Sonntag, dass sie bei
ihren Ermittlungen in Einzelfällen bei Standesämtern nachforscht,
welche Nationalität die Eltern von Tatverdächtigen haben. Es gehe
darum, weitere Täter zu identifizieren sowie die Lebens- und
Familienverhältnisse der bereits bekannten Verdächtigen umfassend
festzustellen, erklärte das Polizeipräsidium. Dies als
"Stammbaumforschung" zu bezeichnen, sei aber nicht korrekt.
Auch Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) verteidigte
das Vorgehen als Selbstverständlichkeit in einem Strafverfahren. "Der
Begriff "Stammbaumforschung" ist da fehl am Platze", sagte Strobl.
"Unsere Polizei arbeitet professionell und korrekt."
Die Ausschreitungen in Stuttgart hätten ein bislang unbekanntes
Gewalt- und Eskalationspotenzial der Beteiligten erkennen lassen.
Daran richteten sind auch die Maßnahmen zur justiziellen und
polizeilichen Aufarbeitung aus. "Und deswegen werden alle Umstände in
die Bewertung einbezogen, die für die Sanktionierung, aber auch die
Prävention, von Bedeutung sind."

Zerschlagene Fensterscheiben nach der Stuttgarter Krawallnacht: Ermittler sichern die Spuren.Bild: www.imago-images.de / ARNULF HETTRICH
In Stuttgart war es in der Nacht zum 21. Juni zu schweren
Auseinandersetzungen gekommen. Randalierer hatten damals Schaufenster
zerstört und Geschäfte geplündert. Nach Angaben der Polizei waren 400
bis 500 Menschen an den Randalen beteiligt oder hatten zugeschaut. 32
Polizisten wurden verletzt. Inzwischen seien 39 Verdächtige
ermittelt. 14 säßen in Untersuchungshaft, 6 weitere Haftbefehle seien
außer Vollzug gesetzt worden, hieß es.
Viel Kritik an der Maßnahme der Polizei: "Rassismus pur"
In einem Bericht von "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter
Nachrichten" hatte es geheißen, die Polizei wolle Stammbaumforschung
betreiben. Polizeipräsident Franz Lutz habe am Donnerstag im
Gemeinderat angekündigt, dass die Polizei auch bei Verdächtigen mit
deutschem Pass mit Hilfe der Landratsämter Stammbaumrecherche
betreiben werde. Das hatte breite Kritik ausgelöst.
"Das verstört mich nachhaltig", twitterte die SPD-Vorsitzende Saskia
Esken. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz
twitterte: "Polizeiliche Stammbaumforschung ist die unsägliche
Konsequenz aus der rechtsextremen Debattenverschiebung darüber, es
sei relevant, ob Menschen, die Straftaten begehen, deutsch sind oder
nicht / Migrationswurzeln haben oder nicht."
"Mir fehlen immer noch die Worte", sagte der Grünen-Politiker Cem
Özdemir den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Der Polizeipräsident
solle seinen "skurrilen Vorschlag" sofort aus der Welt schaffen.
Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte dem Redaktionsnetzwerk
Deutschland: "Stammbaumforschung ist Rassismus pur und ein Skandal,
der umgehend gestoppt werden muss."
Grünen-Parteichef Robert Habeck sagte dem "Tagesspiegel", es sei
wichtig, die Hintergründe der Gewalttaten zu ermitteln und
aufzuklären. "Wir müssen wissen, wie es dazu kam und wie sich so
etwas zukünftig verhindern lässt", betonte er. "Wenn es jedoch
stimmt, dass die Stuttgarter Polizei dafür "Stammbaumrecherche"
betreiben will, wäre das in keinster Weise akzeptabel."
Ein Sprecher der Stadt schrieb am Sonntag bei Twitter, der Begriff
gehöre nicht zum Wortschatz der Stadt beziehungsweise der Polizei.
Weder er noch weitere Zuhörer einer Gemeinderatssitzung könnten sich
daran erinnern. Man werde nun das Sitzungsprotokoll auswerten.
Polizeipräsidium rechtfertigt Vorgehen
Das Polizeipräsidium erklärte dazu am Sonntag, Lutz habe in der
Gemeinderatssitzung erläutert, dass es für eine strafrechtliche
Aufarbeitung nötig sei, alle persönlichen Umstände der Verdächtigen
einzubeziehen. Die Identifizierten seien überwiegend Jugendliche und
Heranwachsende, bei denen die Prävention im Vordergrund stehe. Das Polizeipräsidium betont:
"Um eine erfolgreiche Präventionsarbeit auch längerfristig gewährleisten zu können, bedarf es maßgeschneiderter Konzepte, welche die persönlichen Lebensumstände, wie auch einen potenziellen Migrationshintergrund, miteinbeziehen."
Auch das Vorgehen insgesamt löste aber Kritik aus. "Es ist richtig,
dass die Polizei die Motive der Täterinnen und Täter und die Ursachen
von Kriminalität ermittelt", sagte der innenpolitische Sprecher der
Grünen-Landtagsfraktion, Uli Sckerl. "Die Polizei hat unsere volle
Rückendeckung für ihre Aufklärungsarbeit, aber nicht für fragwürdige
Ermittlungsmethoden."
FDP-Bundestagsfraktionsvize Stephan Thomae nannte das Vorgehen ein
"Unding". "Wir kennen keine Sippenhaft", sagte er.
(lau/dpa)