Julia Schramm will die Linke aus der Krise führen.null / Olaf Kostritz
Interview
Wozu braucht es die Linke eigentlich noch?
Jules El-Khatib muss diese Frage schnellstmöglich beantworten. Mitte Mai 2022 wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Und der 30-jährige El-Khatib, frisch gewählter Vorsitzender der Linken in NRW, steht vor seiner großen Bewährungsprobe.
Bis zur Wahl müssen er und seine Mitstreiterinnen erklären, was sie unterscheidet von starken Grünen und einer wiedererstarkten SPD.
Bei der vergangenen Bundestagswahl hätte die Partei mit einem Stimmenanteil von 4,9 Prozent fast den Einzug in den Bundestag verpasst. Nur der Gewinn von drei Direktmandaten bewahrte sie davor, aus dem Bundestag zu rutschen.
Die Beteiligung an einer Bundesregierung scheint momentan so fern wie lange nicht mehr.
Wie die Linke politisch überleben kann, das fragt sich auch El-Khatibs Parteifreundin Julia Schramm, Mitglied im Bundesvorstand der Partei. Die 36-jährige Schramm war vor Jahren Mitbegründerin der Piratenpartei und Mitglied in deren Bundesvorstand, bis sie nach dem Niedergang der Piraten rübermachte zu den Linken.
watson hat beide, El-Khatib und Schramm, zum Interview geladen, um mit ihnen über die tiefe Krise der Partei zu sprechen – und darüber, ob die Partei radikale Opposition betreiben oder mitregieren sollte.
watson: Die Linke NRW zählt zu den umstrittensten Landesverbänden, auch innerparteilich gab es immer wieder Kritik an teils radikalen Gruppen und Personen. Was wird sich nun mit dir als Landesvorsitzenden ändern?
Jules El-Khatib: Gemeinsam mit meiner Co-Vorsitzenden Nina Eumann und meinem Vorgänger Christian Leye habe ich mich mit vielen anderen an der Entwicklung des Landtagswahlprogramms beteiligt.
"Die ersten Glückwünsche aus anderen Bundesländern kamen aus Berlin und Sachsen"
Nun wollen Nina und ich gemeinsam mit der gesamten Partei für eine möglichst starke Linke in NRW kämpfen, die dann auf hoffentlich in den Landtag einzieht.
Wir wollen darüber hinaus alle Kreisverbände besuchen, noch stärker hören was die Basis will und den Parteiaufbau in den Fokus rücken.
Es mag überraschen, aber direkt nach meiner Wahl habe ich mehr Anrufe und Nachrichten aus den ostdeutschen Bundesländern bekommen als aus den westdeutschen. Die ersten Glückwünsche aus anderen Bundesländern kamen aus Berlin und Sachsen.
Jules El-Khatib ist im Dezember 2021 zum Landessprecher der Linken NRW gewählt worden.null / DIE LINKE NRW / Irina Neszeri
Das ist in der Tat überraschend, die dortigen Linken sind eher vom realpolitischen Flügel, in NRW gibt es viele radikale parteinahe Gruppen.
Jules El-Khatib: Das Image der NRW-Linken wird medial stark übertrieben und wir haben auch unterschiedliche Positionierungen zu einzelnen Fragen.
Die Traditionen in NRW sind in Teilen andere als in Sachsen oder Thüringen. Bei der Zusammenführung der Parteien WASG im Westen und der PDS im Osten zu einer gemeinsamen Linken 2007 ist das deutlich geworden.
"Die Streitereien haben uns viel Kraft gekostet"
Aber heute haben wir in allen Landesverbänden eine Pluralität linker Denktraditionen und Strömungen. Und das ist gut so. Wir können als Linke nur gewinnen, wenn wir alle Flügel mitnehmen.
Die Streitereien haben uns viel Kraft gekostet. Das wollen große Teile unserer Partei hinter sich lassen und diesen Wunsch teile ich.
Julia Schramm ist Mitglied im Bundesvorstand der Linken.Bild: imago stock&people / Christian Thiel
watson: Ihr beiden steht für zwei gegensätzliche Flügel innerhalb der Linken: Julia kommt aus dem Reformer-Lager, Jules aus einer traditionell geprägten Linken. Wie gut versteht ihr euch politisch?
Julia Schramm: Uns verbindet die Überzeugung, dass wir eine pluralistische Linke brauchen. Dazu gehört das Verständnis dafür, wo wir jeweils herkommen.
Nehmen wir zum Beispiel den Nahostkonflikt. Wir zwei kommen aus ganz verschiedenen Hintergründen und haben unterschiedliche Biographien. Und trotzdem bemühen wir uns, miteinander zu arbeiten.
Die Linke ist in mehreren Landesregierungen vertreten, wie hier in Mecklenburg-Vorpommern mit der SPD.Bild: imago images / BildFunkMV
Und persönlich?
Julia Schramm: Kommen wir gut miteinander klar. Wir haben uns während unserer Strategiekonferenz 2020 in Kassel in einer Shisha-Bar kennengelernt. Es war direkt unproblematisch.
Deshalb freue ich mich auch über unser Gespräch, weil es exemplarisch dafür sein könnte, wie man in der Partei miteinander umgeht.
Jules El-Khatib: Da kann ich mich nur voll und ganz anschließen. Wenn das in der Partei immer so klappen würde, wäre unsere Situation vielleicht besser.
Eine Partei, mehrere Flügel
Besonders oft und heftig streiten Linke untereinander über den Nahostkonflikt. Dass Jules El-Khatib und Julia Schramm aus unterschiedlichen Lagern kommen, ist dabei oft deutlich geworden. El-Khatib gilt als prominenter Vertreter des pro-palästinensischen Lagers, Julia Schramm als Unterstützerin Israels. Im Slang der linken Szene nennt man diese beiden Lager "Antiimperialisten" und "Antideutsche". Es sind Konflikte wie diese, die die Linke bis in die Bundestagsfraktion innerlich spalten.
Linke streiten oft darüber, ob sie mitregieren oder für die Revolution kämpfen sollen. Worauf läuft das Projekt Die Linke für euch hinaus?
Jules El-Khatib: Ich bin überzeugt von einer sozialistischen Gesellschaft. Wir brauchen eine Veränderung in der Wirtschaftsstruktur. Und zwar so, dass nicht mehr wenige Großkonzerne über die Stromproduktion, Mieten oder den Zugang zu Grundressourcen entscheiden können.
"Dazu, wie sich der Sozialismus genau ausgestalten lässt, konnte schon Karl Marx relativ wenig sagen. Ich halte mich da nicht für schlauer"
Und wir brauchen eine stärkere Demokratisierung der Gesellschaft: bessere Beteiligungsprozesse und eine Abkehr von Profit- und Marktlogik. Gesundheit und Bildung sind keine Waren.
Dazu, wie sich der Sozialismus genau ausgestalten lässt, konnte schon Karl Marx relativ wenig sagen. Ich halte mich da nicht für schlauer.
Julia Schramm: Dem stimme ich zu. Die Konflikte kommen dann ein bisschen bei dem „Wie“. Wenn wir das umsetzen wollen, was Jules beschrieben hat, ist das de facto eine Revolution.
"Ich glaube schon, dass wir um Einzüge in Parlamente kämpfen und uns im Zweifel an Regierungen beteiligen müssen"
Die wird natürlich nur gegen starke Widerstände durchgesetzt werden können. Wenn wir uns als Linke dabei einig sind, und uns dann darüber unterhalten, wie wir da hinkommen, haben wir eine Menge erreicht.
Wie beantwortest du die Frage nach dem „Wie“?
Julia Schramm: Ich glaube schon, dass wir um Einzüge in Parlamente kämpfen und uns im Zweifel an Regierungen beteiligen müssen. Die Demokratisierung der Wirtschaft und der Produktionsmittel als Ziele muss jedenfalls zentral sein.
Deutschland profitiert massiv von der ungerechten Weltwirtschaft. Wir müssen uns darüber verständigen, wie Schritte hin zu einer sozialistischen Gesellschaft aussehen können, wo alle mitmachen. In Deutschland eine sozialistische Stimme zu sein, ist nicht leicht.
Reform und Revolution
Entstanden ist Die Linke aus dem Zusammenschluss der SED-Nachfolgepartei PDS und der aus der Gewerkschaftsbewegung stammenden WASG im Westen. Dazu kommen die verschiedensten politischen Gruppierungen, die teils als Parteiverbände, teils als parteinahe Gruppen agieren. Die einen setzen auf Regierungsbeteiligung und Reformen, andere träumen vom revolutionären Umsturz.
Wie steht ihr zur Enteignung von Unternehmen?
Jules El-Khatib: Wir sind beide dafür. Julia hat sich im Zuge der Berliner Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen & CO enteignen“ noch viel direkter eingesetzt als ich. Ich habe aus NRW vor allem mitgefiebert.
Julia Schramm: Ich bin in dem Bündnis aktiv und habe es bei dem Volksentscheid unterstützt, und das mit voller Leidenschaft. Ich glaube aber, so ehrlich müssen wir sein, dass viele Menschen zugestimmt haben ohne die komplette politische Dimension zu sehen.
Protest der Bürgerinitiative in Berlin.Bild: www.imago-images.de / Stefan Boness/Ipon
So haben viele von denen, die mit Ja gestimmt haben, wählten bei der gleichzeitig stattfindenden Abgeordnetenhauswahl trotzdem nicht die Linke gewählt, obwohl wir die einzigen sind, die den Entscheid wirklich umsetzen wollen. Das zeigt eine gewisse Disparität.
Aber es zeigt auch, dass die Leute gar nicht so viel Angst vor dem Begriff „Enteignung“ haben. Am Ende geht es um die Frage nach dem Gemeinwohl. Wir müssen die Frage stellen: Was ist privat und was ist öffentlich?
"Mietern zu helfen und die Eigentümer zu entschädigen ist kein Raub, sondern eine Demokratisierung"
Nun könnte man den Entzug von Eigentum durch den Staat für undemokratisch halten, da es in Deutschland als Grundrecht geschützt ist.
Jules El-Khatib: Enteignungen sind durch das Grundgesetz und die verschiedenen Landesverfassungen rechtlich möglich. Das soll ja nicht ohne Entschädigung der ehemaligen Eigentümer passieren. Gerade bei großen Wohnungskonzernen halte ich Enteignungen für sinnvoll.
Wohnungen werden sehr günstig gekauft, um dann Jahr für Jahr die Mieten zu erhöhen, worunter die Allgemeinheit leidet. Menschen werden durch Luxussanierungen vertrieben. Diesen Menschen zu helfen und die Eigentümer zu entschädigen ist kein Raub, sondern eine Demokratisierung.
Klar, Enteignung und Sozialismus sind in Deutschland umkämpfte Begriffe. Aber schon bei der Vermögenssteuer beginnt das zu bröckeln. Selbst bei der FDP-Wählerinnenschaft ist die Mehrheit dafür. Nur unter AfD-Wählern gibt es dafür keine Mehrheit.
Sahra Wagenknecht ist die prominenteste Linken-Politikerin – und die umstrittenste.Bild: dpa-Zentralbild / Britta Pedersen
In bundespolitischen Debatten kommt Die Linke aktuell vor allem in Gestalt von Sahra Wagenknecht vor. Sie löst immer wieder Kontroversen aus, momentan durch scharfe Kritik an den Corona-Maßnahmen. Hilft das der Linken?
Julia Schramm: Mich macht die Diskussion um Sahra Wagenknecht traurig. Das zeigt, wie sehr wir inhaltlich strudeln. Wir könnten so viel mehr erreichen, wenn wir zusammenarbeiten.
Jules El-Khatib: Es ist gut, wenn die Linke im Fernsehen ist, auch Sahra Wagenknecht, allerdings würde ich mir wünschen, dass sie ihren Fokus stärker auf die Kritik der wirtschaftlichen Verhältnisse und den Neoliberalismus legt – und nicht auf Corona oder Migration.
Die Linke und Außenpolitik
Vor allem wegen außenpolitischer Positionen wird Die Linke von anderen Parteien oft als "nicht regierungsfähig" bezeichnet. Mal geht es um eine ablehnende Haltung zur Nato, mal um eine zu große Nähe zu autoritären Regimen, mal um problematische Äußerungen zu Israel und dem Nahostkonflikt. Vor allem in der Linken NRW kam es in der Vergangenheit immer wieder zu entsprechenden Vorfällen. Während einer Kundgebung der Partei in Essen zum Gazakrieg 2014 kam es zu antiisraelischen Parolen, danach zu antisemitischen Sprechchören.
Jules El-Khatib übernimmt einen Landesverband, der auch innerparteilich immer wieder in die Kritik gerät.Bild: Die Linke
Jules, würdest du dich an einer Kundgebung wie in Essen 2014 heute nochmal beteiligen?
Jules El-Khatib: Nein, unser Grundproblem war, nicht deutlich zu machen, wen wir nicht dabeihaben wollen, nämlich Nationalisten und Reaktionäre, die eindeutig nicht dazugehören.
Beim letzten Krieg in Gaza 2021 war ich auf einer Kundgebung mit eindeutig linkem Profil. Da waren die Parolen, und ich glaube auch die Einstellung der Demonstranten, eine andere.
"Es braucht eine deutliche Absage an Rassismus und Antisemitismus"
Wir müssen deutlich machen, dass unsere Kritik an diesem Krieg auf einem friedenspolitischen Konsens beruht. Dass es um Sicherheit für alle Menschen geht. Dass man sowohl Raketen auf Gaza ablehnt als auch Raketen auf Tel Aviv.
Das stand zwar 2014 schon in unserem Aufruf. Aber ich glaube, man muss stärker formulieren, wer auf der Demonstration unerwünscht ist.
Man kann zum Beispiel schreiben, dass man keine Nationalfahnen sehen will. Das schreckt schon mal einen großen Teil ab. Darüber hinaus braucht es eine deutliche Absage an Rassismus und Antisemitismus.
Pro-israelischer Protest in Berlin.Bild: imago images / Stefan Boness/Ipon
Dem NRW-Landesverband wird auch aus den eigenen Reihen immer wieder Antisemitismus vorgeworfen. Wie stehst du dazu, Julia?
Julia Schramm: Als ich die Bilder der Kundgebung in Essen damals gesehen habe, dachte ich nur: What the fuck. Ich habe damals auch einen Shitstorm abgekriegt, weil ich antideutsche Demosprüche getwittert habe. Daran sieht man, wie weit auseinander wir zu diesem Zeitpunkt waren.
Ich hatte Vorurteile gegenüber Jules. Nachdem ich ihn Jahre später persönlich kennengelernt habe, hat sich das geändert. Und bei den Parteibeschlüssen zum jüngsten Konflikt im Nahen Osten haben wir dann gut zusammengearbeitet.
Antisemitismus hat sich nie erledigt, es gibt ihn in der Gesellschaft und ja, auch weiterhin in der Linken.
Ein kleiner Jubel-Schrei zum Abschied
Nach einer knappen Stunde endet das Gespräch. Als Jules El-Khatib sagt, im NRW-Wahlkampf keinen Fokus auf Außenpolitik legen zu wollen, kann sich Julia Schramm einen ironischen Jubel-Schrei nicht verkneifen.
Die gelöste und freundschaftliche Stimmung des Gesprächs könnte tatsächlich Vorbote eines neuen, solidarischen Umgangstons unter den Mitgliedern sein.
Die traditionellen Meinungsverschiedenheiten über Grundsatzfragen sind damit allerdings nicht einfach aus der Welt geschafft. Aber vielleicht schafft es die junge Generation der Linkspartei, gemeinsame Antworten zu finden.
Die Frage wird auch sein, ob diese Antworten rechtzeitig kommen werden, um die Partei zu retten.