Angela Merkel im Dezember 2020 im Deutschen Bundestag.Bild: www.imago-images.de / Florian Gaertner/photothek.de
Interview
"Angela Merkel hat unsere Generation auch gefordert"
Die Fernsehdokumentation "Angela Merkel – Im Lauf der Jahre" beleuchtet auch, welches Land die abgetretene Kanzlerin jungen Menschen hinterlassen hat. Wir haben darüber mit den Jungpolitikern Lilli Fischer (CDU) und Max Lucks (Grüne) gesprochen.
Wer heute in seinen Zwanzigern ist, hat Angela Merkel als Selbstverständlichkeit erlebt. Mehr als ein halbes Leben lang war für junge Menschen in Deutschland diese Frau die mächtigste im Staat. Jetzt, fast drei Monate nach dem Ende ihrer Machtzeit, erscheint ein filmischer Rückblick auf das politische Leben Merkels. Die Dokumentation "Angela Merkel – im Lauf der Zeit" von Torsten Körner blickt zurück auf ihren Weg zur Macht und ihre Arbeit im Kanzleramt. Und sie stellt die Frage, welches Deutschland Merkel hinterlässt.
Wir haben vor der Ausstrahlung mit zwei jungen Politikern gesprochen, die in der Ära Merkel aufgewachsen und zu politisch interessierten Menschen geworden sind: Lilli Fischer, 21 Jahre alt, Social-Media-Referentin für die CDU im Landtag von Thüringen – und Max Lucks, 24, seit Oktober Bundestagsabgeordneter der Grünen. Beide haben die Dokumentation vorab gesehen. Ein Gespräch über Fortschritt und Stillstand – und die Frage, ob Merkel eine Mitschuld trägt am Erfolg der rechtsradikalen AfD.
Watson: Lilli, Max, wann habt ihr zum ersten Mal den Namen Angela Merkel gehört?
Lilli Fischer: Sehr früh. Mein Papa ist selbst CDUler gewesen, Politik hat bei uns im Haushalt früh eine Rolle gespielt. Zum ersten Mal bewusst habe ich Angela Merkel 2005 wahrgenommen, vor der Bundestagswahl. Ich war damals fünf Jahre alt und kann mich noch gut an die Wahlplakate mit ihrem Gesicht auf den Straßen erinnern.
Lilli Fischer (CDU). Bild: Paul Blau
Max Lucks: Bei mir war das auch die Zeit vor der Bundestagswahl 2005. Ich war damals acht, man hat auch als Kind wahrgenommen, dass da eine neue Person die Bühne betritt. Die Wahl war omnipräsent. In meiner Familie und in meinem Umfeld hatten aber alle total Angst, dass Gerhard Schröder und die SPD abgewählt werden.
"Es gab keinen Linksrutsch unter Merkel. Weder inhaltlich, noch bei der Wählerschaft."
Max Lucks, Grüne
Die Dokumentation "Angela Merkel – im Lauf der Zeit" ist in der Mediatheken der ARD und von ARTE zu sehen. Der Film dauert 90 Minuten und ist noch bis Mai dort verfügbar.
Lilli, gerade aus dem konservativen Flügel deiner Partei kommt immer wieder der Vorwurf, Angela Merkel habe einen Scherbenhaufen hinterlassen – und die Union ideologisch entkernt. Wie siehst du das?
Lilli Fischer: Sie hat ein großes Erbe hinterlassen, weil sie die Partei 18 Jahre lang als Vorsitzende und 16 Jahre lang als Kanzlerin enorm geprägt hat. Aber zu einer Kanzlerschaft gehört, gerade in einer Konsensdemokratie wie Deutschland, dass man Koalitionen bildet. Man muss hier eben auch Kompromisse eingehen. Das ist als Entkernung und Linksrutsch wahrgenommen worden.
Zurecht?
Lilli Fischer: Das glaube ich nicht. Wir hatten die Positionen, die heute als Linksrutsch bezeichnet wurden, auch schon vor 18 Jahren in der CDU. Aber wir haben Positionen am rechten Rand – oder besser, am konservativen Rand – vernachlässigt. Das hat unser Spektrum verkleinert. Deswegen erzielen wir auch schlechtere Wahlergebnisse. Wenn wir weiter das gesamte Spektrum angesprochen hätten, würden wir immer noch zwischen 35 und 40 Prozent rangieren. Wir sind nicht gerutscht, wir sind geschrumpft.
"Ich glaube einfach, dass sie menschlich war."
Lilli Fischer (CDU) über Angela Merkel
Max, so ein Linksrutsch, wie Konservative ihn Angela Merkel vorwerfen, müsste dich als linken Grünen ja recht glücklich machen.
Max Lucks: Es gab aber keinen Linksrutsch unter Merkel. Weder inhaltlich, noch bei der Wählerschaft. Die CDU wurde auch unter ihr von den meisten linken Regionen in Deutschland nicht gewählt. In meinem Wahlkreis Bochum I holt die CDU normalerweise um die 20 prozent, linke Parteien zwischen 60 und 65 Prozent. Und hier identifiziert man sich nicht großartig mit Merkel. Ich würde aber schon sagen, dass Merkel für eine Art Humanismus steht, das ist mir auch in der Dokumentation „Angela Merkel – Im Lauf der Zeit“ aufgefallen. Und das finde ich wirklich ganz großartig. Ich habe die Sorge, dass dieser Humanismus, den Angela Merkel verkörpert hat, in der neuen Union verloren geht.
Lilli Fischer: Ich glaube einfach, dass sie menschlich war. Das Lustige ist: In einer Szene im Film sieht man das Wahlplakat von 2005 von Gerhard Schröder neben dem mit Angela Merkel. Bei ihr steht "Ein neuer Anfang", bei ihm "kraftvoll, mutig, menschlich". Aber menschlich, das Wort würde ich Angela Merkel zuschreiben. Und weniger Gerhard Schröder, gerade mit Blick auf sein Verhalten im Russland-Konflikt.
Max Lucks: Ja, das stimmt allerdings (lacht). Sie hatte auch etwas von Aufgeklärtheit. Ich erinnere mich an den Anfang der Pandemie im März 2020, als die "New York Times" Angela Merkels Fernsehansprache mit den Worten kommentierte, sie sei "The Leader of the Free World". Ihr zivilisiertes Auftreten und ihr Geschichtsbewusstsein als Deutsche haben ihre Kanzlerschaft ausgezeichnet.
Im Film geht es auch um darum, wie Angela Merkel das Bild Deutschlands im Ausland verändert hat. Was habt ihr davon mitbekommen?
Lilli Fischer: Ich habe in den letzten Jahren, vor allem vor dem Ende der Amtszeit Angela Merkels, viele internationale Interviews dazu führen dürfen, mit Medien aus Portugal oder Hongkong. Und in jedem der Artikel kam dann das Wort "Mutti" vor, in der deutschen Schreibweise. Dieses Bild ging von Deutschland in die Welt, dass die Menschen hier in der Kanzlerin eine Art Mutter sehen. Und das hat ja auch Clara in dem Film gesagt...
"In vielen Teilen der Welt ist sie als große Regierungschefin angekommen, teilweise hat man uns um sie beneidet. Aber bei der jungen Generation in Griechenland zum Beispiel ist das Bild viel schlechter."
Max Lucks, Grüne
...die 16-jährige Schülerin, die darin öfter zu Wort kommt...
Lilli Fischer: ...dass es gut ist, wenn eine Mama auch mal sagt, dass man etwas nicht machen sollte. Christine Lagarde, die heutige Chefin der Europäischen Zentralbank, nennt sie im Film eine Frau, die immer am Ball bleibt und versucht, alles zu verfolgen – auch zu später Stunde. Auch das ist etwas, das in der ganzen Welt angekommen ist.
Max Lucks: Ich glaube, es kommt immer darauf an, wo man hinschaut. Ja, in vielen Teilen der Welt ist sie als große Regierungschefin angekommen, teilweise hat man uns um sie beneidet. Aber bei der jungen Generation in Griechenland zum Beispiel ist das Bild viel schlechter: Die ist in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Merkel auch dort ihre Sparpolitik durchgesetzt hat.
Für ihre Politik in der Eurokrise ist Merkel auch in Deutschland von links heftig kritisiert worden. 2015, als sie die Grenzen für hunderttausende Flüchtlinge nicht schloss, ist sie für viele Linksliberale zu einer Heldin geworden. Für dich auch?
Max Lucks: Ich stand damals am Bahnhof in Dortmund, als der erste Zug aus Ungarn mit Flüchtlingen hier ankam. Das war schon ein großartiges Gefühl, dass sich die Kanzlerin dafür starkgemacht hatte, dass man in dieser Situation Menschlichkeit zeigt. Das rechne ich ihr sehr hoch an. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten auch mal ein bisschen stolz darauf sein, statt neue Debatten über Abschottung zu führen.
"Ich glaube, dass kein anderer Politiker die Flüchtlingskrise so gemeistert hätte wie Angela Merkel."
Lilli Fischer, CDU
Lilli, wie siehst du das als CDU-Politikerin? Sollte Deutschland stolz sein auf die Bilder, die im Sommer 2015 entstanden sind?
Lilli Fischer: Ich glaube, die Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen und die Grenzen nicht dichtzumachen, war unheimlich menschlich. Und ich glaube, dass kein anderer Politiker die Flüchtlingskrise so gemeistert hätte wie Angela Merkel. Aber damit war ja lange noch nicht Schluss.
Ein Pappmaché-Figur von Angela Merkel vor dem Kanzleramt in Berlin. Bild: www.imago-images.de / snapshot-photography/F.Boillot
Wie meinst du das?
Lilli Fischer: Das, was heute kritisiert wird, ist ja nicht nur die Aufnahme von Flüchtlingen. Wir haben in vielen Ländern keine guten Regelungen, was die Integration angeht. Bei Abschiebungen gibt es die unterschiedlichsten Regelungen. Ich glaube, das ist ein großes Problem, das gerade auch in Ostdeutschland immer wieder polarisiert und viele Menschen ärgert. Wenn wir Flüchtlinge aufnehmen, dann muss das System eben auch dafür sorgen, dass sie in Jobs kommen und die Integration funktioniert.
Angela Merkel hat damals, im August 2015, einen Satz gesagt, der in die Geschichtsbücher eingehen wird – und zu dem es einen eigenen Wikipedia-Eintrag gibt: "Wir schaffen das". Würdet ihr heute, fast sieben Jahre danach, sagen, dass wir es geschafft haben?
Lilli Fischer: Wir sind immer noch dabei. Der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen.
Max Lucks: Ja, wir haben es geschafft und wir können noch viel mehr schaffen. Es ist schon krass, wie viele Menschen in meinem Umfeld ab 2015 nach Bochum gekommen sind – und sich jetzt hier in Parteien und lokalen Initiativen engagieren. Es ist eine Erfolgsgeschichte geworden – die mich auch mit einem gewissen Unverständnis hinterlässt, warum Angela Merkel einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei verhandelt hat, der nur so vor Abschottung strotzt.
Lilli, ist das die Kehrseite des "Wir schaffen das"? Dass Angela Merkel als Regierungschefin des größten und wirtschaftlich mächtigsten EU-Staats nicht wirklich weitergekommen ist auf dem Weg zu einer europäischen Migrationspolitik?
Lilli Fischer: Unbedingt. Es ist viel zu hören, das in die Richtung geht: Wir haben Platz, wir können sie alle aufnehmen. Aber das haben wir nicht für immer, auch wir haben begrenzte Ressourcen. Wir müssen als eines der führenden Länder in Europa daran mitarbeiten, dass die Heimatländer der Menschen, die sich auf die Flucht machen, wieder sicherer werden.
Max Lucks: Man hätte eigentlich schon vor Jahrzehnten anfangen müssen, etwas gegen die Fluchtgründe zu tun, zum Beispiel mit einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Wir sehen ja, was die Waffen, die wir an Saudi-Arabien geliefert haben – die meisten unter der schwarz-gelben Bundesregierung unter Angela Merkel – jetzt gerade im Jemen anrichten. Daran sieht man, dass Merkels von Krisen getriebene Politik ausschließlich reaktiv war.
Lilli Fischer: Man plant ja Krisen in der Regel nicht – und muss dann auf neue Umstände reagieren.
Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag 2016 in Essen. Bild: Getty Images Europe / Sean Gallup
Max, du hast vorhin einen Satz gesagt, den man von einem deutschen jungen Grünen eher nicht erwarten würde: Dass man in Deutschland ruhig mal stolz sein dürfe auf das, was man 2015 geschafft hat. Hat sich für euch Grüne das Verhältnis zum eigenen Land durch Merkels Entscheidung im Sommer 2015 verbessert – durch dieses Bild der Menschlichkeit, das damals in die Welt gegangen ist?
Max Lucks: Ich finde, wir sollten stolz sein auf das, was wir da geleistet haben, auf die vielen Ehrenamtlichen, die geholfen haben und die Menschen eine neue Zuversicht und Perspektive gegeben haben. Ich glaube, zum Patriotismus haben wir jungen Grünen noch immer eine aufgeklärte Distanz. Aber ja, an Merkel hat man schon etwas gesehen, das schön an Deutschland ist: Dass wir in der Geschichte nach 1945 einen Weg des Fortschritts gegangen sind. Von der 68er-Bewegung als treibende Kraft zur ehrlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus, über den Mauerfall durch eine Bürgerbewegung bis zu einer Frau aus dieser Bürgerbewegung, die dann später Bundeskanzlerin wurde. Auf gewisse Weise symbolisiert das die Ära Merkel. Und so einen Verlauf der Geschichte nach 1945 findet man in Europa selten. Darüber können wir glücklich sein.
"Angela Merkel hätte sehr viel mehr Wert auf ostdeutsche Interessen legen können. Vor allem mit Blick auf den ländlichen Raum, der ja in Ostdeutschland 90 Prozent ausmacht."
Lilli Fischer, CDU
Lilli, wie siehst du als ostdeutsche Frau das? Hat Angela Merkel einen Beitrag dazu geleistet, die deutsche Einheit fortzuschreiben? Sie selbst hat ihre ostdeutsche Herkunft ja nicht so oft betont.
Lilli Fischer: Am Ende war sie eine gesamtdeutsche Kanzlerin, die wenig Wert darauf gelegt hat, dass sie aus Ostdeutschland kommt. Sie hat auch nicht unbedingt ostdeutsche Politik gemacht. Und das zeigt sich dann wiederum in den Wahlergebnissen der CDU.
Woran machst du das fest?
Lilli Fischer: Angela Merkel hätte sehr viel mehr Wert auf ostdeutsche Interessen legen können. Vor allem mit Blick auf den ländlichen Raum, der ja in Ostdeutschland 90 Prozent ausmacht. Die Vernachlässigung des ländlichen Raums ist eines der zentralen Themen hier in Ostdeutschland, auch das ist ein Grund für die Wahlergebnisse der AfD. Dazu kommt, dass viele hier Angela Merkel seit der Flüchtlingskrise 2015 als personifizierte Boshaftigkeit darstellen. Ich glaube, wenn Angela Merkel einen anderen Schwerpunkt auf Ostdeutschland gelegt hätte, hätte das auch anders ausgehen können.
Max Lucks: Ich finde richtig, was du zur Strukturschwäche im Osten sagst. Andererseits komme ich aus dem Ruhrgebiet, aus einer westdeutschen Region, die sehr arm ist – und die trotzdem immer den Solidaritätszuschlag bezahlen musste. Während die Stadt Bochum Geld in den Osten überweisen musste, hatte sie kein Geld eine Obdachlosenschlafstelle in Bochum-Wattenscheid weiter zu finanzieren. Wir haben strukturelle Ungerechtigkeiten in Deutschland, die sich in Ost und West wiederfinden.
"Sie hat auf mich auch immer sehr weit weg gewirkt. Arme Regionen in Westdeutschland haben Merkel nicht interessiert."
Max Lucks, Grüne
Und was hat Angela Merkel in dieser Hinsicht getan?
Max Lucks: Sie hat auf mich auch immer sehr weit weg gewirkt. Arme Regionen in Westdeutschland haben Merkel nicht interessiert. Diese Regionen sind in ihrer Ära unter dem Radar geblieben.
Lilli Fischer: Mir geht es weniger um arme versus reiche Regionen, sondern um die Zusammensetzung einer Region. Ich glaube, bei uns im Osten geht es meistens nicht um die Höhe des Lohns – sondern darum, ob der Bus auch am Wochenende kommt. Und darum, dass zwar alle Elektroautos haben sollen, es aber nur eine Ladesäule auf gefühlt 100 Quadratkilometer gibt. Viele Debatten, die in Berlin geführt werden, sind auf den ländlichen Raum in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg überhaupt nicht anzuwenden.
Zum Beispiel?
Lilli Fischer: Wir in der CDU haben uns hier in Thüringen an die Seite von Bürgerinitiativen gegen Windräder im Wald gestellt – aber im Bundestagswahlkampf Plakate aufgehängt, auf denen Windräder im Wald in Thüringen zu sehen. Wir müssen da definitiv aufholen.
"Wenn man aus einer Regierung rausgeht und keine offenen Baustellen hat, dann hat man auch was falsch gemacht."
Lilli Fischer, CDU
Demonstrierende von "Fridays for Future" im Juni 2020 mit einem Transparent, auf dem Merkels Klimapolitik kritisiert wird. Bild: www.imago-images.de / Stefan Boness/Ipon
Ihr habt die starken regionalen Unterschiede in Deutschland angesprochen. Das ist nur eine der Baustellen, die Angela Merkel hinterlässt – neben dem Rückstand beim Klimaschutz, die Schwächen in der Verteidigung der Demokratie gegen Gegner von außen und Feinde von innen. Hat Merkel mehr Probleme hinterlassen – oder mehr Fortschritte erreicht?
Max Lucks: Man kann Merkel für eine sehr sympathische, ehemalige Bundeskanzlerin halten – und gleichzeitig über diese Baustellen sprechen. Stichwort Klimakrise: Man sieht ja auch im Film, dass sie schon in den 1990ern als Umweltministerin in Talkshows erklärt hat, wie gefährlich es ist, Umweltpolitik zu vernachlässigen. Trotzdem ist bei Weitem nicht genug passiert in ihrer Kanzlerschaft. Wir haben in Deutschland eine wahnsinnig starke soziale Ungleichheit, die wir endlich angehen müssen. Der Pflegenotstand ist immer noch nicht bewältigt. In der Gesellschaftspolitik sind wir Jahrzehnte im Rückstand – und alles, was unter Merkel erreicht wurde, zum Beispiel die Ehe für Alle, musste gegen sie erkämpft werden. Eine Lehre aus der Ära Merkel muss sein, dass wir politische Herausforderungen viel stärker zukunftsgerichtet, visionär und vorausschauend angehen.
Lilli Fischer: Wenn man aus einer Regierung rausgeht und keine offenen Baustellen hat, dann hat man auch was falsch gemacht. Deswegen ärgert mich das immer, wenn ich Kritik an der Union höre nach dem Motto: Ihr hattet 16 Jahre, warum habt ihr es nicht geändert?
Warum?
Lilli Fischer: Nach der Logik bräuchte man bei guter Regierungsarbeit irgendwann überhaupt kein Wahlprogramm mehr zu schreiben. Aber die Herausforderungen sind eben jedes Jahr neue, es öffnen sich immer neue Baustellen. Ja, bei der Digitalisierung gibt es noch einiges zu tun, im Bildungsbereich und gegen den Pflegenotstand auch. Aber auch wenn Olaf Scholz jetzt 16 Jahre lang mit der Ampel regieren würde – was ich nicht hoffen will – würde er offene Baustellen hinterlassen.
Merkel hat als Kanzlerin mehrfach das Wort "alternativlos" verwendet, um ihre Politik in der Eurokrise zu rechtfertigen. Dafür hat sie sich viel Kritik anhören müssen, etwa, dass sie damit der Debattenkultur geschadet habe. Wie seht ihr das?
Lilli Fischer: Das war ein Fehler von ihr. Politische Entscheidungen sind leider nie alternativlos.
Max Lucks: Es war ein großer Fehler, der auch ein bisschen davon zeugt, wie Merkel die Lust auf demokratischen Streit aus der politischen Debatte verdrängt hat. Es gibt immer Alternativen. Manchmal muss man sich ehrlich machen, welche negativen Folgen die eine oder die andere hat. Aber man sollte immer über die Alternativen diskutieren.
Die Partei Alternative für Deutschland wurde 2013 als eine Antwort auf das Merkel-Wort "alternativlos" gegründet. Heute ist die AfD die erste rechtsradikale Partei, die zweimal in Folge in den Bundestag gewählt wurde. Trägt Merkel eine Mitschuld an ihrem Entstehen?
Lilli Fischer: Allein die Kampagne "Merkel muss weg" hat sich immer ganz speziell auf sie als Person bezogen. Angela Merkel ist der Gegner, den die AfD beschreibt. Deswegen glaube ich schon, dass sie dazu beigetragen hat, dass diese Partei sich gründet. Aber ich möchte ihr auf keinen Fall eine persönliche Schuld dafür geben.
Merkel hat also eine Verantwortung für die Entstehung der AfD, trägt aber keine Schuld daran?
Lilli Fischer: Die AfD wurde als Antwort auf die Politik Merkels gegründet. Aber sie ist nicht der Grund dafür, dass diese Partei rechtsradikal ist. Dafür sind die AfD-Mitglieder verantwortlich.
Max Lucks: Die AfD hat sich ja nicht in einem luftleeren Raum gegründet, sondern im Rahmen eines größeren Backlashs, in Europa und weltweit. Die AfD hat viel von dem rechtsradikalen Potenzial abgeholt, das es schon immer gab und das in bestimmten Regionen besonders stark war. Frau Merkel hat der politischen Debatte ein bisschen Kraft zur Polarisierung entzogen. Sie hat Kompromisse geschlossen, versucht zu integrieren, meistens in großen Koalitionen regiert. Fehlende Polarisierung mag vielleicht Rechtsradikalismus etwas begünstigen. Aber eine Mitschuld sehe ich bei Angela Merkel nicht.
"Angela Merkel hat unserer Generation einen unheimlich menschlichen Politikstil mitgegeben. Das ist großartig. Sie hat unsere Generation aber auch auf eine gewisse Art und Weise gefordert."
Max Lucks, Grüne
Angela Merkel im November 2018, beim Besuch einer Basketballmanschaft in Chemnitz. Bild: imago stock&people / Xinhua
Was hat Angela Merkel jungen Menschen in Deutschland hinterlassen?
Lilli Fischer: Ein Land, in dem ich gut und gerne lebe.
Der Slogan aus dem CDU-Bundestagswahlkampf 2017!
Lilli Fischer: Naja, ich ärgere mich jedenfalls dumm und dämlich über Leute, die sagen, Angela Merkel habe das Land heruntergewirtschaftet. Ich finde, wir leben in einem ganz großartigen Land, das gut funktioniert, das natürlich noch viel zu tun hat. Aber ich lebe hier sehr gerne. Das Allerwichtigste finde ich ein Leben in Frieden in einem geeinten Europa, einem starken Europa. Und dazu hat sie als überzeugte Europäerin einen wichtigen Beitrag geleistet. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Max Lucks: Angela Merkel hat unserer Generation einen unheimlich menschlichen Politikstil mitgegeben. Das ist großartig. Sie hat unsere Generation aber auch auf eine gewisse Art und Weise gefordert, für die eigenen Interessen aufzustehen, manchmal auch gegen Merkel selbst.
Was würdet ihr Angela Merkel sagen, wenn ihr ihr jetzt begegnen würdet?
US-Wahl und die Spaltung der Gesellschaft: Was Deutschland daraus lernen sollte
Seit der US-Wahl steht fest: Donald Trump wird erneut ins Amt des US-Präsidenten zurückkehren. Spannend war das Rennen ums Weiße Haus allemal. Doch es war ein Wahlkampf, der von starker Polarisierung und emotionaler Abneigung zwischen den beiden politischen Lagern geprägt war. Er hat die gesellschaftlichen Gräben in den Vereinigten Staaten weiter vertieft.