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Bundestagswahl: Wahlsystem: Experte kritisiert übergroßen Bundestag

In Zukunft könnte der Bundestag immer weiter anwachsen. Statt der 598 Sitze die das Parlament regulär hat, sind aktuell 709 Plätze besetzt.
In Zukunft könnte der Bundestag immer weiter anwachsen. Statt der 598 Sitze die das Parlament regulär hat, sind aktuell 709 Plätze besetzt.Bild: dpa / Daniel Kalker
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Bundestagswahl: Experte kritisiert übergroßen Bundestag – "Gewinnt nicht an Qualität"

26.09.2021, 11:0823.04.2024, 10:13
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Der Bundestag ist zu groß. Aktuell sitzen 709 Abgeordnete im Parlament. Laut Bundeswahlgesetz sollten es eigentlich 598 sein: 299, die über die Erststimme mit einem Direktmandat in ihrem Wahlkreis einziehen, 299 über die Zweitstimme und ihren Platz auf der Landesliste ihrer Partei. Doch in der Realität wird der Bundestag nach der Wahl 2021 voraussichtlich noch größer als bisher. Dadurch wird er teurer – und die Arbeit der Volksvertreter wird erschwert.

Warum ist das so? Und was lässt sich dagegen tun?

Watson hat mit Joachim Behnke darüber gesprochen, wie das Wachstum des Bundestags gestoppt werden kann – und warum sich viele Abgeordnete so schwer damit tun, Reformen auf den Weg zu bringen. Behnke ist Politikwissenschaftler an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Sein Schwerpunktthema: das deutsche Wahlsystem. Er hat in der aktuellen Wahlperiode Bundestagsabgeordnete beraten, die an einer Wahlrechtsreform arbeiteten.

watson: Herr Behnke, warum wird der Bundestag immer größer?

Joachim Behnke: Das liegt an den Ausgleichsmandaten, die wiederum mit den Überhangmandaten zusammenhängen. Konkret bedeutet das: Wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr per Zweitstimme zustehen, kommt es zu Überhangmandaten. Dieser Vorteil muss ausgeglichen werden. Das sind dann die berühmten Ausgleichsmandate der anderen Parteien. Deshalb wächst der Bundestag immer weiter an – in diesem Jahr möglicherweise auf 850 Abgeordnete.

Die Ausgleichsmandate gibt es erst seit der Bundestagswahl 2013. Vorher konnte es also passieren, dass eine Partei sehr viel mehr Mandate hatte, als ihr eigentlich zustehen und die anderen Parteien keinen Ausgleich dafür bekamen – das Verhältnis hat am Ende also nicht mehr gestimmt.

Genau. Wie es dazu kam, dass es mit der Zeit immer mehr Überhangmandate gab, als noch vor 20 oder 30 Jahren, lässt sich leicht erklären. Und zwar am Beispiel der CSU.

"Der Bundestag gewinnt nicht an Qualität, wenn mehr Abgeordnete darin sitzen. Im Gegenteil: sie wird ziemlich sicher schlechter"

Inwiefern?

Die CSU hat aktuell das Problem, dass sie laut einigen Umfragen nur noch bei 30 Prozent liegt. Sie hätte also aufgrund der Zweitstimmen einen Anspruch auf ungefähr 30 Sitze im Bundestag. Möglicherweise könnte sie aber trotzdem alle Direktmandate in den 46 Wahlkreisen in Bayern gewinnen. Das wäre dann eine extreme Überrepräsentation, die ausgeglichen werden muss. In Zeiten, in denen im Bundestag noch nicht so viele verschiedene Parteien gesessen haben, hat die Aufteilung von Direktmandaten und Zweitstimmen noch besser gepasst.

Jetzt könnte man sagen, dass 850 Abgeordnete mehr Menschen sind, die das Volk vertreten und repräsentieren. Wieso ist ein großer Bundestag überhaupt problematisch?

Der Bundestag gewinnt nicht an Qualität, wenn mehr Abgeordnete darin sitzen. Im Gegenteil: sie wird ziemlich sicher schlechter. Gerade, weil die Ausschüsse größer werden und viel mehr abgestimmt werden muss. Auch die Qualität der Abgeordneten wird nicht besser. Und es ist wahnsinnig teuer. Jeder zusätzliche Abgeordnete kostet den Steuerzahler schätzungsweise 2,2 Millionen Euro für eine Legislaturperiode

Das ist viel Geld.

Ja, und wenn wir, wie jetzt, mit 250 zusätzlichen Abgeordneten rechnen, befinden wir uns in einer Größenordnung von 550 Millionen. Das ist kein Pappenstiel und führt zu Recht zu Verdruss in der Bevölkerung.

Bald kein Platz mehr? Der Bundestag wächst immer weiter.
Bald kein Platz mehr? Der Bundestag wächst immer weiter.Bild: Flashpic / Jens Krick

Dass sie den Bundestag verkleinern wollen, behaupten eigentlich alle Parteien. Eine erste Reform setzt schon zu dieser Wahl ein: Drei der Überhangmandate sollen dann nicht mehr ausgeglichen werden, dafür aber mit anderen Landeslisten verrechnet werden. Für wie sinnvoll halten Sie diese 2020 verabschiedete Mini-Reform?

Dieses Gesetz bringt eigentlich gar nichts. Wobei die drei unausgeglichenen Überhangmandate in diesem Jahr ausnahmsweise einen größeren Effekt haben könnten.

Warum?

Da bei dieser Wahl voraussichtlich nicht mehr die CDU, sondern die CSU die relativ meisten Überhangmandate hätte und sich der Ausgleich daher an ihr orientiert, ist der Effekt größer. So werden pro unausgeglichenem Mandat ungefähr 18 Ausgleichsmandate eingespart. Also würde der Bundestag ohne diese unausgeglichenen CSU-Mandate nochmal um mehr als 50 Sitze zusätzlich wachsen.

Unausgeglichene Überhangmandate heißt aber auch, dass eine Partei mehr Sitze erhält, als ihr wegen des Zweitstimmenergebnisses zustehen. Dadurch verändert sich das Größenverhältnis zwischen den Fraktionen. Wie fair ist das?

Durch die drei zusätzlichen Mandate wäre die CSU sehr stark überrepräsentiert. Wenn es eng wird, könnte das auch Einfluss auf die Regierungsbildung haben: Wenn beispielsweise Rot-Rot-Grün gerade genug Zweitstimmen für eine regierungsfähige Koalition hätte – und dann die Überhangmandate der CSU diese Mehrheit verhindern.

Vor allem die Überhangmandate von CDU und CSU sind es, die den Bundestag aufblähen – und zwar durch die dazugehörigen Ausgleichsmandate.
Vor allem die Überhangmandate von CDU und CSU sind es, die den Bundestag aufblähen – und zwar durch die dazugehörigen Ausgleichsmandate.Bild: Felix Zahn/photothek.net / Felix Zahn

Das wäre eine ganz schöne Verzerrung.

Insgesamt würde die Überrepräsentation die Erfolgswertgleichheit – der Erfolgswert ist das Maß, mit dem der Einfluss der Wählerstimme auf die Zusammensetzung des Gremiums gemessen wird – außer Kraft setzen. Diese ist aber maßgeblich für das Bundesverfassungsgericht. Es kann also sein, dass diese Regelung verfassungswidrig ist.

Wenn sich im Nachgang der Wahl herausstellt, dass die Regelung tatsächlich verfassungswidrig ist: Was bedeutet das dann?

Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens könnte das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss kommen, dass die drei Mandate keine so großen Konsequenzen haben, das Gesetz aber spätestens zur nächsten Wahl berichtigt werden muss.

Und zweitens?

Die zweite Möglichkeit wäre, dass die Überhangmandate nachträglich ausgeglichen werden.

"Weil die Parteien natürlich kein Interesse daran haben, den Bundestag nicht größer werden zu lassen. Weil sie ja alle davon profitieren"

Was wäre die dritte Alternative?

Das Bundesverfassungsgericht könnte die Wahl auch für ungültig erklären und Neuwahlen ansetzen. Das wäre natürlich die extreme Version.

Um den Bundestag weiter zu verkleinern, soll perspektivisch die Zahl der Wahlkreise reduziert werden. Inwiefern kann das dieses Problem lösen?

Momentan haben wir 299 Wahlkreise und eine reguläre Bundestagsgröße von 598. Das heißt, der Anteil der Direktmandate beträgt 50 Prozent. Das bedeutet: Wenn eine Partei alle Direktmandate holt, aber mit den Zweitstimmen nicht die 50 Prozent erreicht, ist sie überrepräsentiert. Gibt es jetzt aber weniger Wahlkreise, gibt es auch weniger Direktmandate. Wenn Direktmandate nur noch 40 Prozent der Sitze ausmachen, ist eine Partei dann überrepräsentiert, wenn sie alle Direktmandate, aber weniger als 40 Prozent der Zweitstimmen holt. Es käme also zu weniger Überhang- und dadurch zu weniger Ausgleichsmandaten.

Warum soll diese Reform erst zur kommenden Wahl umgesetzt werden?

Weil die Parteien natürlich kein Interesse daran haben, den Bundestag nicht größer werden zu lassen. Weil sie ja alle davon profitieren.

Möglicherweise ist die Wahlrechtsreform verfassungswidrig.
Möglicherweise ist die Wahlrechtsreform verfassungswidrig.Bild: dpa / Uli Deck

Wäre es eine Möglichkeit, die Erststimme und damit die Direktmandate abzuschaffen und rein über die Zweitstimme zu wählen?

Das wäre natürlich insofern bedauerlich, als das die persönliche Komponente komplett herausgenommen würde. Wir könnten aber auch sagen, dass wir zwar die Personenwahl behalten wollen, sie aber in ein zu 100 Prozent striktes Verhältniswahlrecht integrieren.

"Und es kann auch ganz starke Auswirkungen auf die Identität der Parteien haben – dort gibt es nämlich auch regionale Besonderheiten"

Wie genau soll das funktionieren?

Am Ende bekommt jede Partei so viele Sitze, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Und diese Sitze werden auf die Direktkandidaten verteilt: Stehen einer Partei zum Beispiel 30 Sitze zu, kommt Direktkandidat Nummer 31 eben nicht ins Parlament. Man kann das auch mit der Hälfte der Plätze machen und den Rest über die Landesliste auffüllen. Demokratietheoretisch ist das klasse. So können nicht mehr nur die Parteiführungen die Listen bestimmen, sondern die Wahlentscheidung jedes Wählers.

Welche Reform bräuchte es konkret, damit wir wieder auf einen wie von Ihnen gewünschten Bundestag mit 598 Sitzen kämen?

Die Zahl der Wahlkreise müsste erheblich reduziert werden – wahrscheinlich müssten wir unter die 250 Wahlkreise gehen, die Grüne, Linke und FDP vorgeschlagen haben. Je weniger, desto besser im Endeffekt. Und dann müssten wir uns überlegen, wie wir mit den restlichen Überhangmandaten umgehen, die es trotzdem noch gibt. Zum Beispiel so, wie es bei dieser Bundestagswahl – über die Verrechnung mit anderen Landeslisten. Dann hätten wir aber dann ein Gerechtigkeitsproblem.

Ein kleinerer Bundestag bedeutet auch, das Abgeordnete das Parlament verlassen müssen.
Ein kleinerer Bundestag bedeutet auch, das Abgeordnete das Parlament verlassen müssen.Bild: dpa / Michael Kappeler

Inwiefern?

Es könnte passieren, dass die CDU in Sachsen alle Direktmandate holt, in Nordrhein-Westfalen aber kaum welche. Dann werden die Direktmandate in Sachsen mit der Landesliste in Nordrhein-Westfalen verrechnet. Die Zweitstimme der CDU-Wähler in Nordrhein-Westfalen würde also an einen Direktkandidaten aus Sachsen gehen. Auch für die Kandidaten wäre das unfair.

Das klingt nicht optimal.

Nein, das ist es auch nicht. Und es kann auch ganz starke Auswirkungen auf die Identität der Parteien haben – dort gibt es nämlich auch regionale Besonderheiten.

"Wichtig wäre, die Parteien als Spieler aus dem Spiel zu nehmen, weil sie zu sehr nach ihren eigenen Interessen handeln"

Da muss man nur an die CDU Thüringen und ihren Direktkandidaten Hans-Georg Maaßen denken.

Genau. Eine andere Möglichkeit wäre, die überschüssigen Direktmandate, also die Überhangmandate, einfach nicht mehr zu vergeben. Das Problem bei der Debatte ist aber nicht, dass es keine Vorschläge gibt, wie der explodierende Bundestag aufgefangen werden könnte. Vielmehr ist es die Tatsache, dass die Parteien die Verkleinerung nicht wollen.

Und wie könnte man diesem Problem begegnen?

Zum Beispiel mit einem Bürgerrat. Das heißt, eine repräsentative Auswahl der Bevölkerung, vielleicht hundert Personen, lässt sich von Experten ordentlich briefen und formuliert dann einen Vorschlag. Und dieser Vorschlag könnte dann ins Parlament eingebracht und beschlossen werden. Eventuell könnte davor noch in einer Volksabstimmung darüber abgestimmt werden. Wichtig wäre, die Parteien als Spieler aus dem Spiel zu nehmen, weil sie zu sehr nach ihren eigenen Interessen handeln. Es geht also nicht darum, was eine gute Reform ist. Sondern darum, wie wir sie umsetzen können.

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