
Ein Missbrauchsfall in Münster erschüttert Deutschland. (Symbolbild)Bild: The Image Bank RF / Christopher Hopefitch
Deutschland
09.06.2020, 18:0210.06.2020, 15:05
Massive Versäumnisse und Wissensdefizite
beim Thema sexueller Gewalt gegen Kinder sieht eine Expertin bei den
Familiengerichten.
"Es kommt bei sexualisierter Gewalt viel zu häufig
vor, dass wir eine Zwangsbelassung von Kindern in familiären
Gewaltsituationen haben, weil Familiengerichte falsche Entscheidungen
fällen", sagte Ursula Enders der Deutschen Presse-Agentur. Sie ist
Traumaberaterin und Leiterin der Informationsstelle gegen sexuellen
Kindesmissbrauch Zartbitter in Köln.
Ihre zentrale Kritik: Die Richter an den
Familiengerichten seien nicht ausreichend fortgebildet und könnten
häufig die Traumafolgen von kindlichen Opfern sexueller Gewalt nicht
richtig einschätzen.
Versäumnisse bei der Ausbildung
"Sie wissen vielfach nicht, dass Kinder, die massive Gewalt
erleben, diese Erlebnisse durch den Loyalitätskonflikt, in dem sie
stecken, abspalten und bei Besuchskontakten strahlend auf Täter
zulaufen können." Es komme sogar immer wieder vor, dass
Familiengerichte der Bindung wegen weitere Besuchskontakte anordnen
würden.
Enders warnte:
"Dadurch wird das Geschehen immer wieder reaktiviert. Eine Verarbeitung des Traumas ist dann gar nicht möglich."
"Alleine das Jurastudium qualifiziert bei uns zum
Familienrichter. Doch es braucht hier viel tiefere Kenntnisse. Es
kann ja nicht sein, dass engagierte Richterinnen und Richter es
selbst in die Hand nehmen, sich entsprechend zu qualifizieren", sagte
Enders.
"Unmenschlich und für den Normaldenkenden unvorstellbar"
Im Missbrauchsfall Münster war bekannt geworden, dass das
Jugendamt der Stadt Münster seit Jahren Kontakt zur Familie eines der
Opfer hatte. Das Amtsgericht in Münster hatte Ende 2015 entschieden,
dass kein Eingriff notwendig ist.
Das Jugendamt hatte in der Folge
weiter Kontakt zur Mutter, zum Kind und zum heute
Haupttatverdächtigen, die nicht in einem Haushalt lebten. Auch nach
2016 gab es aus Sicht der Stadt keinen Grund, einzugreifen. Demnach
gab es aus dem sozialen Umfeld bis heute keinen Hinweis auf eine
mögliche Gefährdung oder auf Auffälligkeiten des Kindes.
Wie jetzt bekannt wurde, soll der Hauptverdächtige (27) im
Missbrauchsfall Münster unter anderem den zehnjährigen Sohn seiner
Lebensgefährtin anderen Männern zum schweren sexuellen Missbrauch
angeboten und die Taten gefilmt und verbreitet haben. 2016 und 2017
war er wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie
zu Bewährungsstrafen verurteilt worden.
Nach Einschätzung des Leiters der nordrhein-westfälischen
Stabsstelle gegen Kindesmissbrauch, Ingo Wünsch, markiert der
Missbrauchsfall in Münster verglichen mit den beiden Fällen Lügde und
Bergisch Gladbach eine neue Stufe krimineller Energie. "Und wir sind
noch lange nicht am Ende dessen, was vorstellbar ist, davon bin ich
leider überzeugt. Im Fall Münster rechne ich daher weiter mit dem
Unvorstellbaren", betonte er", sagte Wünsch der "Rheinischen Post"
(Dienstag). Alle drei Fälle seien monströs und zeigten ein Verhalten
von Menschen, das "unmenschlich und für den Normaldenkenden
unvorstellbar" sei.
(dpa-afxp)