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Silvester: Wie das Böllern den Krieg in der Ukraine nach Deutschland bringt

Mann mit Silvester Böller
Sollten wir an Silvester Raketen aufsteigen lassen? Unsere Autorin ist klar dagegen.Bild: Pexels / Rakicevic Nenad
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Silvester: Wie das Böllern den Krieg nach Deutschland bringt

31.12.2022, 11:43
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Wir alle kennen die Diskussion. Sie ist nicht neu. Jedes Jahr kommt sie wieder auf. Am Ende des Jahres. Sollten wir das Böllern verbieten?

Für mich war Silvester schon immer ein seltsamer Tag. Irgendwelche Leute suchen sich irgendeinen random Tag im Jahr, um irgendeinen Grund zu finden, sich volllaufen zu lassen und Krach zu machen.

Als Kind und Jugendliche war mir nicht bewusst, was wir damit anrichten. Alle haben es gemacht – und Traditionen sind doch was Schönes.

Nun wurde ich – Überraschung!! – erwachsen.

Das können offenbar aber nicht alle von sich behaupten. Denn noch immer streiten sich die Menschen auf die kindischste Art und Weise darüber, ob man diese furchtbar sinnbefreite Tradition verbieten sollte oder nicht. Ist ja schließlich Tradition! Lasst den Menschen doch ihre verdammte Freiheit! Böllern ist geil! Meine Ablehnung, mein – ja fast schon – Ekel hat sich hingegen mit den Jahren immer weiter gefestigt.

Aber gut ... was weiß ich schon?

Die meisten Argumente sind bekannt: Klima, Tierschutz, Umweltschutz. Und dann wäre da noch die hohe Verletzungsgefahr. Alles schön und gut. Hat mich überzeugt. Easy. Abgehakt. Ende Peng! Ich mache bei dem Mist nicht mehr mit. Zählt mich doch zu eurer verhassten linken und woken Bubble. Macht mir nichts. Was weiß die schon, diese langweilige Tante?

"Ich war im Krieg. Ich habe zugesehen, wie Artillerie auf der Straße explodiert ist – und ich habe es gehört!"

Na ja: Dieses Jahr hat bei mir etwas verändert.

Etwas, bei dem ich mich sogar schäme, es nicht früher auf dem Plan gehabt zu haben.

Ich war im Krieg. Ich stand unter Beschuss. Ich habe zugesehen, wie Artillerie auf der Straße explodiert ist – und ich habe es verdammt nochmal gehört!

Seit ich das erste Mal aus dem Krieg in der Ukraine zurückgekommen bin, nehme ich die Welt sehr viel sensibler wahr. Wie soll es auch anders sein? Mein erster Besuch in dem Land, in dem ein diktatorischer Mistkerl Menschen terrorisiert und ermorden lässt, endete in der Luhansk Region. In einer Stadt, die drei Wochen nach meinem Besuch gefallen ist: Lyssytschansk.

Ich habe gesehen, wie sehr die Menschen unter den Bomben litten. Ich habe selbst an einem Tag in einem Haus Schutz gesucht, das gerade gezielt von russischen Streitkräften angegriffen wurde.

Als ich wieder in Deutschland war, habe ich jedes Geräusch unbewusst aufs Genaueste überprüft. PENG! Nur ein Fehlstart. PENG! Ein Autounfall. Rauschen, Pfeifen, PENG! Wo kam das her? Ach ja: ein Feuerwerk. Ob von einer Hochzeit oder nur irgendwelchen Idiot:innen, die mal eben Lärm machen wollten. Ich wurde immer und immer wieder an die Bomben erinnert.

Nun würde ich von mir nicht behaupten, traumatisiert zu sein. Ich war seit meinem ersten Besuch noch zwei weitere Male da. Ich war in Charkiw, Mykolajiw, Kiew, Butscha, in vielen weiteren kleinen Ortschaften und zuletzt in Bachmut – dem derzeitigen Hotspot. Der Front. Während meiner Zeit vor Ort hatte ich nie mit Folgen wie Verletzungen oder Tod zu tun. Ich hatte Glück.

Nichts weiter: nur Glück!

Andere Menschen hatten dieses Glück nicht. In Deutschland leben seit der illegalen Invasion am 24. Februar rund 900.000 geflüchtete Ukrainer:innen. Viele davon haben miterlebt, wie Freund:innen, wie deren Kinder oder Eltern und Großeltern verletzt oder getötet wurden. Einige wurden selbst verletzt. Viele lebten wochen- oder monatelang in dreckigen Kellern, um sich vor der Hölle vom Himmel zu schützen. Aßen nur, wenn Hilfsorganisationen etwas vorbeibrachten. Trinkwasser? Fehlanzeige.

17.12.2022, Ukraine, Bachmut: Eine �ltere Anwohnerin geht mit ihren Gehstock eintlang besch�digter Geb�ude. Foto: Libkos/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Bachmut, Mitte Dezember: Eine ältere Anwohnerin geht mit ihrem Gehstock entlang beschädigter GebäudeBild: AP / Libkos

So und jetzt kommt ihr: Wer von den "BÖLLER!!!"-Schreienden kann von sich behaupten, Artilleriegeschosse oder Raketen gehört zu haben, die vom Himmel fallen? Wer von euch "Freiheit"-Krakeeler:innen war schonmal ernsthaft in Lebensgefahr, weil Projektile auf euch regneten? Musstet ihr schonmal euer ganzes Leben hinter euch lassen, eure Kinder in den Krieg schicken und gleichzeitig um euer Leben rennen, weil über euch ein Kampfhubschrauber fliegt und wahllos nach unten schießt?

Vielleicht gibt es ja den einen oder die andere. Vielleicht. Doch der Großteil, der hier in Deutschland Lebenden, hat diese Erfahrungen nicht machen müssen. Und das ist auch gut so! Ich wünsche das niemandem. Es macht keinen Spaß! Und es kann am Ende tödlich sein.

Was ich mir wünsche, ist Empathie.

Und hier komme ich auch noch einmal zurück auf einen Satz, der zu Beginn dieses Textes eher beiläufig gefallen ist: Ich schäme mich. Ich schäme mich dafür, dass ich diese Empathie nicht schon seit Jahren aufbringen konnte. Dass ich erst selbst ansatzweise das erleben musste, was andere erlebt haben, um sie zu verstehen. Um mit ihnen zu fühlen.

Denn Geflüchtete aus der Ukraine sind nicht die Einzigen hier in Deutschland, die durch eine einzige Silvesternacht retraumatisiert werden können. Viel zu viele Menschen fliehen vor Krieg und Terror. Aus aller Welt.

"Immer wieder holen wir Krieg und Tod in Form von schmerzenden Erinnerungen direkt hier her. Direkt ins friedliche Deutschland."

Ich hatte mich Mitte des Jahres dazu auch einmal mit einem Traumatherapeuten unterhalten. Er sagte mir, allein ein Geräusch oder etwas, das jemand sagt, könnten das Trauma wachrufen. "Im Gehirn bildet sich eine Art Erinnerungsspur, die dann aktiviert wird", sagte der Psychiater Sergiy Davydenko damals. Es reichen ein Gewitter oder Flugzeuggeräusche, um Flashbacks von Kriegserfahrungen auszulösen.

Ein Freund, der aus Syrien geflohen ist, erzählte mir, er könne die Nachrichtensendungen über den Krieg in der Ukraine nicht sehen, weil er zu stark an sein verlorenes Zuhause erinnert würde.

Als ich einer Frau, die aus der ukrainischen Stadt Mykolajiw geflohen war, ein Video von meiner Arbeit in der Luhansk-Region zeigte, fing sie an zu weinen.

Ein Freund von mir arbeitet seit zehn Jahren als Aktivist in Kriegsgebieten. Er erzählte mir, dass er noch immer bei jedem Fehlstart eines Motorrads zusammenzuckt.

Wenn allein Alltagsgeräusche ein Trauma aufkochen lassen können – was wird dann wohl durch Silvesterböller geweckt?

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Wir böllern ohne Rücksicht einfach so, sinnfrei, ohne Not – weil wir es wollen. Immer wieder holen wir Krieg und Tod in Form von furchtbar schmerzenden Erinnerungen direkt hier her. Direkt ins friedliche Deutschland. Wir lassen Menschen, die Schreckliches erlebt haben, diese Erfahrungen noch einmal durchleben. Und zwar Jahr für Jahr! Aus Spaß.

Aber gut ... Streitet nur um eure Freiheit, nicht an andere denken zu müssen. Kämpft um euer Recht auf Rücksichtslosigkeit.

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