Charkiw: Eine Bewohnerin betrachtet die Ruinen ihres Wohnhauses nach russischem Beschuss.Bild: AA / Metin Aktas
International
Bombenalarm und Artilleriegeschosse stehen in der ostukrainischen Stadt Charkiw auf der Tagesordnung. Währenddessen erleben traumatisierte Menschen den Horror des Krieges immer wieder von Neuem. Besuch einer Psychiatrie in der umkämpften Stadt – einem Ort, wo Heilung fast nicht möglich ist.
28.06.2022, 16:0401.07.2022, 11:06
Krieg kann einen Menschen brechen.
Wenn die Sirenen täglich heulen, Bomben fallen, Kinder vor den Augen der Eltern sterben, Alte nicht mehr fliehen können, weil sie zu krank sind. Wenn Menschen gefoltert werden, sie zusehen müssen, wie ihre Liebsten misshandelt, missbraucht werden.
Dann kann der Mensch, kann seine Psyche brechen.
Da steht ein Zaun in Charkiw. Ein hoher Zaun aus Draht mit einer Tür. Sie ist verschlossen. Dahinter eine Wiese. Trostlos liegt sie im Schatten eines heruntergekommenen Hauses. Ohne Ziel wanken Menschen darauf hin und her, vor und zurück. Sie sprechen – doch zu niemandem direkt. Ihre Blicke verlieren sich. Starren ins Nichts. Baumkronen verdunkeln das abgesperrte Gelände zusätzlich. Ein Mann bewegt sich zum Drahtgitter. Eingefallene Augen, herausragende Knochen. Er salutiert. Bedankt sich auf Ukrainisch. "Er glaubt, wir seien das Militär", erklärt der Mann, der dieses Gebäude zeigt.
Verfall und Dunkelheit
Er ist der Leiter der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses in der ostukrainischen Stadt Charkiw. Sein Name und wo sich das Krankenhaus befindet, darf aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht werden.
Der Mann im khakifarbenen Shirt und den kurz getrimmten Haaren geht schnell. Er führt durch jeden Gang, jede Station der psychiatrischen Einrichtung.
Das Haus selbst wirkt schon bedrohlich. Dunkel, kalt. Die Treppen sind von Verfall gezeichnet, von den in unterschiedlichen Farben gestrichenen Wänden bröckelt der Putz ab, ziehen sich tiefe Risse hindurch.
Das einzige Licht, das in die schmalen Gänge durchdringt, kommt von links. Durch die Fenster in den Zimmern schimmern Sonnenstrahlen, die vom Schatten der Baumkronen aus dem Außenbereich gebrochen werden.
Doch die Betten, die darin stehen, sind leer.
Stattdessen stehen zusätzliche Betten in den Gängen. Und die sind voll belegt. Manche Menschen sind fixiert, manche außerdem verletzt. Sie winden sich, murmeln etwas, einer schreit. "Tötet sie nicht. Tötet sie bitte nicht." Er blickt an die vergilbte Decke. Seine Augen sind gerötet und feucht.
In den Zimmern können diese Menschen nicht liegen. Zu nah an den Fenstern. Zu gefährlich im Falle eines Raketenangriffs.
Tatsächlich sind Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäuser ein häufiges Angriffsziel für die vom Kreml beauftragten russischen Truppen. Auf Anfrage von watson hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zum 28. Juni 323 Angriffe auf das Gesundheitswesen in der Ukraine bestätigt. Mindestens 76 Menschen starben dabei, 59 Menschen wurden verletzt. Zu diesen Vorfällen gehören der WHO zufolge Angriffe auf die Gesundheitseinrichtungen selbst (276), das Personal (29), Patienten (14), Transportmittel (51), Vorräte (82) und Lager (10).
50 Prozent wegen des Krieges eingeliefert
Der wohl bekannteste Fall ist das Bombardement einer Geburtsklinik in der ostukrainischen Stadt Mariupol Anfang März. Heute ist die Stadt gänzlich in russischer Kontrolle. Damals versuchte der Kreml noch, Gerüchte zu streuen und ein solches Kriegsverbrechen zu leugnen. Doch Nachforschungen des Recherchezentrums "Correctiv" zufolge sind die Daten eindeutig: Es gab diesen Angriff. Ganz klar.
Auch in der Klinik in Charkiw fürchtet man, Angriffsziel zu werden. An einem Ort, an dem die Menschen Ruhe finden sollten. Einem Ort, der nicht viel Ruhe verspricht.
In einem Waschraum steht eine rostige Badewanne. Rissige Fliesen aus einem vergangenen Jahrhundert tauchen den Raum in ein schmutzig gelbes Licht. Es riecht nach Urin und Erbrochenem.
"Wir müssen sie hier unterbringen", erklärt der Leiter der Abteilung. "Dieser Flügel war eigentlich seit Jahren unbenutzt." Bis russische Truppen über die Stadt hergefallen sind. Zu viele Patientinnen und Patienten sind es seit Kriegsbeginn geworden. "Mindestens 50 Prozent sind allein wegen des Krieges hier."
Die Angriffe in Charkiw verstärken sich wieder. Viele Wohnhäuser sind durch Einschläge zerstört.Bild: AA / Metin Aktas
Neben dem Waschraum: Eine Tür, auf der in der Mitte eine faustgroße Delle prangt. Ein Mann nähert sich.
Seine Augen bewegen sich unkontrolliert hin und her. An der Hand hat er einen Verband, der beginnt, sich zu lösen. Sein weißes T-Shirt ist dreckig, sein Gesicht traurig. Er schaut abwechselnd auf die Tür und seine Hand. Redet und redet vor sich hin. "Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe, ich weiß es nicht", sagt er. Der Mann mit Khaki-Shirt streichelt ihm über die Schulter und den Oberarm. Ein Krankenpfleger kommt, redet dem Patienten zu, führt ihn ab.
Wie viele Menschen seit Beginn des Einmarschs im Februar in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden, ist nicht bekannt. In Folge des Kriegsbeginns 2014, verbunden mit der Flucht aus ostukrainischen Gebieten, ist einer Veröffentlichung des Robert-Koch-Instituts zufolge ein Anstieg psychischer Störungen in der Ukraine zu verzeichnen.
Demnach weisen mehrere Studien auf einen Anstieg von post-traumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei Menschen hin, die innerhalb der Ukraine Schutz suchten. Diese Erkrankung kann als Folge auf ein traumatisches Erlebnis auftreten – und mündet in Symptomen wie belastende Erinnerungen an das Trauma, Flashbacks, Alpträume, Schlafstörungen, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Reizbarkeit oder Konzentrationsprobleme.
Davon sind laut RKI auch Kinder und Jugendliche in der Ukraine betroffen: Etwa eines von vier Kindern und Jugendlichen benötige psychosoziale Unterstützung. 33 Prozent zeigten Anzeichen einer Depression oder PTBS und Suizidgedanken. Wegen Versorgungslücken und mangelndem Vertrauen gegenüber psychischer Gesundheitsangeboten könnten die tatsächlichen Zahlen der Erkrankungen allerdings weitaus höher sein, heißt es beim RKI.
Es reicht ein Geräusch – und die Erinnerung kommt zurück
Klar ist allerdings, dass jeden Tag weitere Menschen in psychiatrischen Einrichtungen vorstellig werden. Auch in Deutschland. Das bestätigt Sergiy Davydenko gegenüber watson. Davydenko ist Funktionsoberarzt und stellvertretender klinischer Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik in Mainz.
Dort erhält der Psychiater täglich zwei bis drei Anfragen von Menschen aus der Ukraine. Vor allem von Frauen, die mit ihren Kindern geflohen sind, sagt er. "Frauen, die die ukrainischen Männer zurückgelassen haben. Sie müssen mit der Gewissheit leben, dass sich ihr Mann, ihr Sohn, ihr Bruder oder ihr Vater momentan in Lebensgefahr befindet." Viele meldeten sich mit Problemen wie Essstörungen, Depressionen, Schlafproblemen.
Statistisch gesehen, sagt Davydenko, leiden mindestens 50 Prozent der Menschen, die eine Vergewaltigung erlebt oder miterlebt haben, an PTBS oder Angststörungen. Das Gefühl von Hilflosigkeit, der Gedanke daran, sich nicht wehren zu können und diese Erinnerungen, die schrecklichen Bilder: Das alles kehrt immer wieder zurück. "Man versucht, diese Flashbacks zu vermeiden", erklärt Davydenko.
Doch allein ein Geräusch oder etwas, das jemand sagt, könnte diese Erinnerungen wachrufen. "Im Gehirn bildet sich eine Art Erinnerungsspur, die dann aktiviert wird."
"So eine Umgebung macht eine Heilung quasi unmöglich."
Psychiater Sergiy Davydenko
Es reichen ein Gewitter oder Flugzeuggeräusche, um Flashbacks von Kriegserfahrungen auszulösen. In Charkiw, wo die Patientinnen und Patienten quasi in einer Krankenhausruine untergebracht sind, sind diese Geräusche an der Tagesordnung. Bombenalarm, Artillerie von Seiten der Ukraine, Raketeneinschläge nehmen im Moment wieder massiv zu. "So eine Umgebung macht eine Heilung quasi unmöglich", sagt Davydenko. "Eigentlich müssten diese Einrichtungen sofort evakuiert werden."
Wie viele Menschen mit Kriegserfahrungen durchschnittlich an psychischen Erkrankungen leiden, ist schwer zu sagen, meint der Psychiater. "Dazu gibt es unterschiedliche Zahlen." US-amerikanische und deutsche Studien zeigten, dass etwa 20 Prozent der Soldatinnen und Soldaten an PTBS als Folge ihrer Kriegserfahrungen erkranken.
In der Zivilbevölkerung, die sich nicht im Krieg befindet, sind die Zahlen – gesamt betrachtet – deutlich geringer. Davydenko schätzt, dass circa fünf bis sechs Prozent der Männer daran leiden. Aber: Menschen, die Erlebnisse wie Bombenangriffe, Folter oder Vergewaltigung direkt erlebt haben, erkranken sehr viel häufiger. "Unterschiedliche Studien gehen von 45 bis 70 Prozent aus."
"Wenn eine Frau vergewaltigt wird und sie versucht, sich zu wehren, gibt es irgendwann den Moment, in dem dieser Wille gebrochen wird."
Psychiater Sergiy Davydenko
Und nicht nur das: Traumata können vererbt werden. Auch in diesem Krieg besteht laut Davydenko das Risiko, dass künftige Generationen noch psychisch darunter leiden könnten. "Wenn eine Frau vergewaltigt wird und sie versucht, sich zu wehren", erklärt der Psychiater, "dann gibt es irgendwann den Moment, in dem dieser Wille gebrochen wird." Dieser Moment setzt sich im Trauma-Gedächtnis fest – und kann an Kinder und Enkelkinder weitergetragen werden. Epigenetik nennt sich das.
Mit einer entsprechenden Traumatherapie könne man ein solches Risiko aber senken. "Wenn der Glaube an die eigene Kraft wiederhergestellt wird, kann dieses Trauma wieder gebrochen werden."
Charkiw: Ihr Mann spielte Domino im Hof, als ihn am 27. Juni eine russische Streubombe traf. Anna Satanovskyi, weint, während die Leiche ihres Mannes geborgen wird.Bild: ZUMA Press Wire / Carol Guzy
Für eine geeignete Traumatherapie bleibt den Menschen in Charkiw nicht viel Zeit. Zwangsjacken sind auf den Gängen zu sehen. Frauen, die in einem rosa gestrichenem Speisesaal sitzen und ins Leere starren. Viele darunter wirken jung. Eine Patientin mit zerzausten Haaren fixiert die Vorbeigehenden mit ihrem Blick und zeigt auf etwas. Doch da ist nichts.
Russische Truppen haben unterdessen ihre Angriffe auf Charkiw wieder verstärkt. In der Klinik arbeitet man weiter.
Auch wenn die Bomben fallen.