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Von mütend zu nur noch wütend: Warum gerade alle durchdrehen

Women with safety mask from coronavirus. Covid-19 outbreak around the world
Im zweiten Jahr der Corona-Pandemie liegen die Nerven bei vielen blank.Bild: iStockphoto / Tomas Ragina
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Von mütend zu nur noch wütend: Warum gerade viele durchdrehen

25.04.2021, 09:1925.04.2021, 11:19
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Neulich stand ich mal wieder an der Kasse einer Filiale einer bekannten deutschen Drogeriemarktkette. In der Hand zwei Schnuller und ein Fläschchen für meine Tochter, die vor mir im Kinderwagen saß und an ihrem Fruchtriegel kaute. So weit, so normal. Bis vor einigen Monaten wäre das kein besonderes Ereignis in meinem Tagesablauf gewesen. Was dann passierte, kann aber nur mit der besonderen Situation erklärt werden, in der wir alle seit über einem Jahr stecken.

Kurz bevor ich meine Produkte auf das Kassenband legen konnte, stellte sich hinter mir mit keinem halben Meter Abstand ein mittelalter Mann in die Schlange. Ich konnte förmlich seinen Atem in meinem Nacken spüren. Als ich mich umdrehte, merkte ich, warum. Der Mundschutz hing knapp über dem Mund, die Nase war nicht bedeckt und auch sonst wirkte es nicht so, als ob der Mann den Sinn der FFP2-Maske verstanden hätte. Ich, doch etwas genervt, bat ihn, bitte die eineinhalb Meter Abstand einzuhalten, die durch die roten Markierungen am Boden klar erkennbar waren.

Widerwillig machte er einen Schritt zurück und schaute mich an. Ich bat ihn daraufhin doch bitte auch die FFP2-Maske über die Nase zu ziehen, so wie es alle anderen in der Schlange getan hatten. Er erklärte mir, dass er dann nicht so gut atmen kann. Was für eine Argumentation. Wir alle können ohne Maske deutlich besser atmen als mit. Aber wir alle tragen die Maske trotzdem, um uns und andere damit zu schützen, genauso wie mit dem Abstand in Supermärkten und anderen engen Räumen.

Die Comedienne Hazel Brugger hat sogar ein Kind mit FFP2-Maske über dem Gesicht bekommen, wie sie auf Twitter erklärt hat. Wenn eine Frau es hinbekommt, unter Schmerzen, die die meisten Männer in westlichen Ländern sich nicht einmal vorstellen können, eine Maske im Kreißsaal zu tragen, dann sollte es doch für einen Mann mittleren Alters möglich sein, diese auch in der Schlange in einem Drogeriemarkt für die überschaubare Dauer seines Einkaufs aufzuhaben.

"Wäre meine Tochter nicht dabei gewesen, hätte mein Gerechtigkeitsempfinden mich wahrscheinlich dazu gebracht, mich mit diesem Pavian anzulegen."

Ich fragte ihn, ob er einen medizinischen Nachweis habe, dass er von der Maskenpflicht befreit ist. Nein, hatte er nicht. Streitlüstern funkelten seine Augen mich an und mir wurde klar, dass es hier nicht um medizinische Indikation ging, sondern darum, wer auf dem Affenfelsen denn nun der Silberrücken ist. Und wer die Nerven hat, das durchzusetzen. Wäre meine Tochter nicht dabei gewesen, hätte mein Gerechtigkeitsempfinden mich wahrscheinlich dazu gebracht, mich mit diesem Pavian anzulegen. So beließ ich es dabei, ihm einige genervte Blicke zuzuwerfen.

Zwei Tage später eine ähnliche Situation: Ich stand wieder an einer Kasse. Dieses Mal im Supermarkt und ohne meine Tochter. Hinter mir bat eine ältere Dame die Frau hinter sich, bitte die eineinhalb Meter Abstand einzuhalten. Keine Reaktion. Auch nach dem zweiten und dritten Mal tat die Frau in der Schlange so, als hätte sie nicht gehört. Die ältere Dame wirkte zunehmend verzweifelter und flehte die Frau an, doch bitte etwas Abstand zu halten.

Sie schien um die 70 Jahre alt zu sein, definitiv in einem Alter, bei dem eine Infektion mit den neuen Mutanten mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nicht nur zu leichtem Husten führen kann, sondern im Zweifel auch zu einem Aufenthalt auf der Intensivstation – oder Schlimmeren. Ihre Angst war förmlich zu spüren.

"Wir müssten jetzt doch nicht alle hysterisch werden. Wir sollen uns alle mal abregen, erklärte er mit erregter Stimme und hochrotem Kopf."

Wieder meldete sich mein Gerechtigkeitsempfinden zu Wort. Ich bat die Frau, doch bitte ein bisschen Abstand zu nehmen. Wieder keine Reaktion. Zumindest nicht von der betroffenen Frau. Stattdessen meldet sich ein mittelalter Herr in der Schlange vor mir zu Wort und erklärte, wir müssten jetzt doch nicht alle hysterisch werden. Es würden doch alle Masken tragen. Wo denn das Problem sei. Wir sollen uns alle mal abregen, erklärte er mit erregter Stimme und hochrotem Kopf.

Ich sagte ihm, dass es nicht an ihm wäre, zu entscheiden, ob die Angst einer älteren Dame hysterisch ist oder nicht und deutete auf die Kasse, wo die Kassiererin auf seine Bezahlung wartete. Als er gezahlt hatte und kopfschüttelnd gegangen war, bedankte sich die ältere Dame bei mir. Aber besonders gut fühlte ich mich nicht. Ich erklärte ihr, dass wir doch alle hier in der Schlamassel zusammen stecken und einfach ein wenig Rücksicht aufeinander nehmen müssen. Das wäre doch nicht zu viel verlangt.

Auch ich bin Teil des Problems

Und tatsächlich bin ich auch Teil des Problems. Zu einer anderen Zeit hätte ich vermutlich mit deutlich mehr Gelassenheit in so einer Situation reagiert. Aber auch ich bin nach über einem Jahr Corona-Pandemie und vielen, vielen Monaten Lockdown unterschiedlichster Bezeichnung nervlich am Limit. Ich bin dünnhäutig geworden und die Maskenverweigerer auf den Corona-Demos wecken in mir den Ruf nach einem autoritären Staat, den wir entgegen anderslautender Meinungen aktuell eben nicht haben. Das Herumsitzen zu Hause im Homeoffice und der mangelnde Ausgleich durch Freizeit-Aktivitäten hat mir jegliches Zeitgefühl geraubt. Wochenende oder Werktag, die Tage fühlen sich gleich an. Selbst, wenn ich mal Freizeit habe: Alles, was eine Großstadt wie Berlin an sich lebenswert macht, ist geschlossen.

"Keiner erlebt mehr etwas Spannendes. Alle schmoren im Corona-Loch."

Und als wären die Entbehrungen nicht fordernd genug, werde ich auch noch auf allen medialen Kanälen mit dem Corona-Blues konfrontiert. Meine Lieblingspodcasts kennen kein anderes Thema mehr, als sich über die Corona-Gipfel oder Jens Spahn aufzuregen. Und wer kann es den Produzenten und Moderatoren verübeln.

Viele Podcaster erzählen aus ihrem Alltag und ihre Lebensrealität ist aktuell eben auch nicht viel anders als meine. Es ist wie mit Freunden zu telefonieren, die in anderen Städten wohnen, aber denen es allen genauso geht wie mir: Keiner erlebt mehr etwas Spannendes. Alle schmoren im Corona-Loch.

Corona-Loch (-down)

Dass viele kurz vor dem Durchdrehen sind, ist natürlich der Pandemie geschuldet. Aber auch die Politik hat ihren Anteil daran. Die Art und Weise, wie die Ministerpräsidentenkonferenz vor einigen Wochen gescheitert ist. Die Ankündigung der Kanzlerin, nicht mehr nochmals 14 Tage warten zu wollen, nur um dann genau das zu tun. Der Streit innerhalb der Union um die K-Frage, der ausgetragen wurde, als wäre das Land nicht seit Monaten in einer Krisensituation.

Das alles ergibt den Eindruck, dass wir in einem nicht enden wollenden Lockdown festhängen und inzwischen selbst die Spitzenpolitik kapituliert hat. Von den Versäumnissen bei den Impfungen will ich hier gar nicht erst anfangen.

Die Menschen spüren das: Ein großer Teil der Bevölkerung ist mit den aktuellen Maßnahmen nicht einverstanden. Viele fordern ein härteres Durchgreifen, wie aktuelle Umfragen des MDR und Meinungsforschungsinstituten zeigen. Aber man muss nicht Befürworter härterer Maßnahmen sein, um an der aktuellen Corona-Politik zu verzweifeln. Viele Regeln sind schlicht missverständlich oder unsinnig.

Warum nun eine Ausgangssperre nach 22 Uhr kommen soll, obwohl die meisten Ansteckungen nicht im Freien, sondern in geschlossenen Räumen stattfinden, können viele nicht nachvollziehen. Politiker und Experten schlagen die Köpfe über die geplanten Maßnahmen zusammen. FDP-Vize Wolfgang Kubicki hatte gegenüber watson bereits angekündigt, dass gegen eine nächtliche Ausgangssperre vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingelegt werden soll.

Auch sind die Regelungen von Bundesland zu Bundesland und Region zu Region unterschiedlich. Wer weiß denn schon tagesaktuell, welche Inzidenz die eigene Stadt oder Region gerade aufweist? Zusammen mit der sich ständig ändernden Lage führt das vor allem zu Chaos und Verunsicherung. Und diese Verunsicherung herrscht auch bei den grundlegendsten Infos zum Thema Pandemie-Prävention.

So erklärte mir der mittelalte Herr im Supermarkt, mit FFP2-Maske vorm Gesicht müsste man keinen Abstand mehr halten. Dabei schützen die Masken, insbesondere wenn sie mal, wie so oft, nicht ganz sachgemäß getragen werden, nicht vollständig vor einer Ansteckung. Experimente der Technischen Universität Berlin hatten gezeigt, dass bis zu 75 Prozent der Atemluft trotz Maske ungefiltert entweichen kann, wenn sie nicht richtig getragen wird.

"Bis dahin müssen wir aufeinander Rücksicht nehmen, wir stecken alle zusammen in diesem Schlamassel."

Doch selbst, wenn ich ihm das erklärt hätte, wäre er wahrscheinlich trotzig wie ein kleines Kind bei seiner Haltung geblieben. Die innere Abwehrhaltung gegenüber jeglichen Einschränkungen des eigenen Lebens ist nach einem Jahr Pandemie-Bekämpfung und Enttäuschungen über die staatliche Corona-Politik bei einigen Menschen gestiegen wie der R-Wert. Die Bevölkerung ist nicht mehr nur Corona-müde oder mütend, viele Menschen sind einfach nur wütend und wissen nicht, wohin mit ihrem Frust.

Abhilfe kann letztlich nur die Impfung bringen, auf die die überwiegende Zahl der Deutschen aktuell noch wartet. Bei allem Frust ist es schön mit anzusehen, wie die Zahl der Geimpften jeden Tag steigt und neue Rekordzahlen von täglichen Impfungen gemeldet werden. Wenn im Spätsommer dann wirklich jeder Bundesbürger ein Impfangebot erhalten hat, werden wir hoffentlich wieder normal miteinander umgehen an den Supermarktkassen dieses Landes. Bis dahin müssen wir aufeinander Rücksicht nehmen – wir stecken alle zusammen in diesem Schlamassel.

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