Der offene Brief erschien in dem von ihr gegründeten Magazin "Emma": Alice Schwarzer gehört zu der Gruppe von 28 deutschen Journalistinnen, Autoren und Kulturschaffenden, die sagten, die Ukraine sollte sich auf einen Kompromiss mit Russland einigen.Bild: dpa / Oliver Berg
Deutschland
30.04.2022, 12:2830.04.2022, 14:23
In den vergangenen Wochen wurde Bundeskanzler Olaf Scholz wegen seines Zögerns bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine vielfach kritisiert. Zahlreiche Politiker warfen ihm vor, zu zaghaft zu agieren. Scholz selbst verteidigte sein Vorgehen stets mit der Begründung, Russland nicht zu sehr verärgern und eine Eskalation des Krieges in Richtung Nato vermeiden zu wollen. Die Kritik an seinem Handeln brach trotzdem nicht ab.
Erst in dieser Woche änderte Deutschland sein Vorgehen. Am Donnerstag billigte der Bundestag schließlich mit großer Mehrheit die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.
Prompt wandte sich am Freitag eine Gruppe deutscher Prominenter wie Alice Schwarzer, der Schriftsteller Martin Walser und der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in einem Offenen Brief an den Kanzler – mit der Warnung vor einem Dritten Weltkrieg.
Angst vor einem Dritten Weltkrieg und atomarer Eskalation
Sie appellieren darin an Scholz, nicht noch mehr schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin dürfe kein Motiv für eine Ausweitung des Krieges auf die Nato geliefert werden, schreiben die Unterzeichner in dem Brief, der am Freitagvormittag auf der Webseite des Magazins "Emma" erschienen ist. Sie warnen vor der Gefahr eines Dritten Weltkrieges.
Der Offene Brief erschien am Freitagvormittag auf der Webseite emma.de.Bild: Screenshot emma.de
Zu den 28 Erstunterzeichnern gehören der Autor Alexander Kluge, der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der Sänger Reinhard Mey, die Kabarettisten Gerhard Polt und Dieter Nuhr, die Schauspieler Lars Eidinger und Edgar Selge und die Schriftstellerin Juli Zeh.
Anders als viele Kritiker, die Scholz eine zaudernde Haltung vorwerfen, bekunden die Unterzeichner des Briefes ihre Unterstützung dafür, dass der Bundeskanzler bisher aus ihrer Sicht alles getan habe, um eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs zum Dritten Weltkrieg zu vermeiden:
"Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können."
Die Unterzeichner betonen, dass Putin mit dem Angriff auf die Ukraine das Völkerrecht gebrochen habe. Dies rechtfertige aber nicht, das "Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen". Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könne Deutschland selbst zur Kriegspartei machen.
Dieser Offene Brief löste wiederum eine Welle der Kritik aus, zu verfolgen insbesondere auf Twitter.
So meldet sich etwa der Journalist Stefan Lischka auf der Plattform: "Hä? Die Unterzeichner des Aufrufs in der Emma ziehen also aus dem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung durch den russischen Aggressor den Schluss, dass die Ukraine doch am schlauesten aufhören soll sich zu wehren?"
Damit bezieht er sich auf eine Textpassage im Offenen Brief, in dem die Verfasser über die "Grenzlinie" beim Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung sprechen:
Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu in einem unerträglichen Missverhältnis. Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Zum andern besteht der Irrtum, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren Kosten an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.
Melnyk: "Nichts aus der Geschichte gelernt"
Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk meldete sich zu Wort. Er schrieb: "Diese Prominenten, die der Ukraine schwere Waffen verwehren wollen und damit dem Mörder Putin nur in die Hand spielen, damit er ukrainische Frauen und Kinder zerbomben kann, haben das Prinzip 'Nie wieder' mit Füßen getreten. Nichts aus der Geschichte gelernt. Traurig."
FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann empörte sich ebenfalls: "Das muss man sich mal vorstellen: In der Ukraine, die einseitig brutal angegriffen wird, kämpfen Menschen um ihr Leben und 28 sogenannte 'Prominente' fordern "beide Seiten" zu einem Kompromiss auf." Der einzige Kompromiss sei laut Strack-Zimmermann die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine. Sie findet: "Wer sich durch einen Krieg 'belästigt' fühlt, sollte seinen Wertekompass ganz unkreativ mit dem Hammer geraderücken."
"Schrecklich und aufschlussreich"
Auch der Korrespondent im Parlamentsbüro der Süddeutschen Zeitung verurteilt die Forderungen im Brief: "Dieser offene Brief ist schrecklich und aufschlussreich. Gefordert wird ein Kompromiss, 'den beide Seiten akzeptieren können'. Klingt gut. Worum es aber tatsächlich geht: Deutschland soll helfen, die Ukraine zu zwingen, sich #Russland zu ergeben."
Der Journalist und Politikredakteur der "Welt", Matthias Kamann, äußert sich auf Twitter zum Brief und bezeichnet die Aussagen der Verfasser gar als "arrogant": "Die Autor:innen des Briefs in der #Emma lügen das Freiheitsstreben der Ukrainer:innen in etwas um, was die Regierung in Kiew entschieden hätte. Auf Basis dieser Lüge maßen sie sich dann an zu dekretieren, was für jene Menschen eigentlich gut sei. Was für eine Arroganz!"
Der Politiker Jan Philipp Albrecht sieht es ähnlich und verweist auf die Notwendigkeit, freie westliche Werte, wenn nötig, zu verteidigen: "Das 'Nie wieder' nach 1945 war aus Sicht der Befreier*innen immer ein 'Nie wieder deutscher Überfall', ein 'Nie wieder Faschismus', ein 'Nie wieder Massenmord, nie wieder Shoa'. Es war kein 'Nie wieder effektiv das Völkerrecht, die Menschenrechte und die Menschlichkeit verteidigen'", schreibt der Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein.
Damit reiht er sich in eine Flut an Kommentaren ein, die nach Veröffentlichung des Briefs in den sozialen Netzwerken folgten. So auch jener des Tagesspiegel-Journalisten Paul Starzmann, der die Sichtweise der Unterzeichner auf zynische Weise verspottet. Er twittert am Freitagnachmittag: "Was geht die Ukraine auch alleine und im kurzen Rock nachts auf die Straße! Schöne Grüße, eure Emma".
(ast / mit Material von dpa)
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