In seinen knapp 24 Jahren als Lehrer an Brennpunktschulen, sagt Olaf Schäfer, habe er fast alles erlebt. Die Kinder der berüchtigten arabischen Clans in Berlin besuchten seine Klasse. Roma-Mädchen lernten beim heute 55-Jährigen das Lesen und Schreiben, deren Eltern sie eigentlich nie zur Schule schicken wollten. "Klar, es gibt immer wieder schwierige Fälle", sagt Schäfer. Diese seien aber nicht die Regel.
"Ich hatte Kinder, die zu Beginn des Schuljahrs kein Wort Deutsch sprachen, zum Ende hin konnte man sie dann nicht mehr von den anderen unterscheiden", erzählt Schäfer.
16 Jahre lang hat er in Berlin Neukölln unterrichtet, dann wurde er Lehrer im Stadtteil Marzahn. Als am vergangenen Montag in Deutschland der Streit über die spätere Einschulung von Kindern mit mangelhaften Deutschkenntnisse losbrach, da dachte Schäfer nur: "bitte nicht schon wieder!"
Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann hatte die Debatte mit einem Interview Anfang der Woche losgetreten. Linnemann sagte:
Es gab heftige Reaktionen auf diese Worte. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) etwa nannte Linnemanns Worte eine "Bankrotterklärung der Politik". Solche Aussagen liefen darauf hinaus, "dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung zurückgestellt werden", sagte VBE-Vorsitzende Udo Beckmann.
Dennoch: Viele sprangen Linnemann auch bei, etwa der CDU-Generalsekretär Tilmann Kuban.
Das Hauptargument: Linnemann habe doch nur angesprochen, was im Alltag deutscher Schulen für viele Lehrerinnen und Lehrer eben nicht funktioniere.
„Carsten Linnemann hat mit seiner Problembeschreibung absolut recht“, sagte etwa Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Kinder bräuchten eine intensive Sprachbetreuung, bevor sie in die Schule kommen. Aber sollte eine Einschulung im Zweifel wirklich "zurückgestellt" werden, wie Linnemann sagt?
"Seit den 60ern tun Politiker alle Jahre wieder so, als sei die Migrationsfrage an deutschen Schulen plötzlich neu aufgetreten", sagt Schäfer. Immer wieder tauche dabei auch die Forderung auf, Schüler mit schlechteren Sprachkenntnissen vom Rest zu trennen. "Als hätte das jemals funktioniert", kritisiert Schäfer.
Stattdessen bestehe der Alltag einer Grundschule heutzutage aus unterschiedlichsten Kulturen und Sprachfähigkeiten der Kinder. Viele Probleme hätten überhaupt nichts mit deren Nationalität zu tun, sagt Schäfer: Oft mangele es an grundlegender Erziehung, Körperhygiene würde vernachlässigt oder das Kind sei hyperaktiv. "Das optimale Schulkind ist extrem selten", sagt der Lehrer. Er ist überzeugt: "Es ist Aufgabe einer demokratischen Schule, all das auf einen Kurs zu bringen, egal, wie schwierig es ist."
Wer aber die wenigen schwierigen Fälle ausgliedere, wer eine spätere Einschulung fordere oder Kinder auf Grund ihrer Probleme in jüngere Klassen setze, der befördere das Problem noch.
"Kinder lernen am meisten von anderen Kindern. Nimmt man ihnen die gleichaltrige Peer-Group weg und pfercht sie mit ähnlichen 'Problemfällen' zusammen, kann das gar nicht funktionieren", sagt Schäfer.
Ilka Hoffmann zweifelt sogar an, ob es CDU-Mann Linnemann überhaupt um die Kinder geht. "Der Kontext des Zitats, also die Geschehnisse von Frankfurt, lässt dieses höchst populistisch erscheinen", sagt die gelernte Pädagogin gegenüber watson. Sie hat mehrere Jahre an einer Förder- und Gemeinschaftsschule unterrichtet. Jetzt kümmert sie sich für den Vorstand der Gewerkschaft "Erziehung und Wissenschaft" (GEW) um das Thema Schule.
Sie sagt: Nicht ein Mangel an Deutschkenntnissen sei das große Problem im schulischen Alltag, sondern einer an ordentlich ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern.
Tatsächlich fehlen bundesweit tausende Lehrkräfte. An Berliner Brennpunktschulen hat sich außerdem in den vergangenen beiden Jahren auch der Anteil an Quereinsteigern ohne ordentliche pädagogische Ausbildung mehr als verdoppelt. Er ist um 150 Prozent größer als im bürgerlichen Milieu.
Und dieser Mangel an Personal treffe auf "extrem hohe soziale Herausforderungen", wie Hoffmann sagt. Probleme mit der deutschen Sprache seien da lediglich eines von vielen ebenso schwerwiegenden Problemen. Sie alle hätten nichts mit der Abstammung oder dem Migrationshintergund der Kinder zu tun, wie in der Debatte oft suggeriert würde.
Weil in Deutschland lange am Schulsystem gespart worden sei, gebe es jetzt nicht genügend Personal, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden.
Anstatt die Betreuungs-Situation zu verbessern, würden auf diese Weise Kinder aus anderen Kulturkreisen separiert. Das aber werte vor allem deren Herkunft ab und helfe am Ende keinem.
Das sagt übrigens auch Schäfer, der außerdem schwere Kritik an der Ausbildung von neuen Lehrer übt. "Da wird auf einen Alltag vorbereitet, den es vielleicht noch irgendwo in einem bayerischen Alpendorf gibt", sagt der Lehrer. Mit dem Alltag habe das aber nichts zu tun. Gleichzeitig würden immer mehr deutsche Eltern ihre Kinder aus den Schulen herausziehen und auf teurere Privatschulen schicken. "Sie glauben fälschlicherweise, dass das Niveau der Klasse durch Migranten-Kinder sinkt, auch wenn das überhaupt nicht der Fall sein muss", sagt Schäfer.
Debatten, wie sie CDU-Mann Linnemann gerade angestoßen hat, würden dabei helfen diesen "Rassismus der Mittelschicht" immer weiter zu verstärken.