Er sprach von Gedankenkontrolle. Von einem allmächtigen Geheimdienst, der ihn seit seiner Kindheit überwacht. Von der Ausrottung minderwertiger Völker. Bevor er in Hanau mehrere Menschen erschoss, veröffentlichte der mutmaßliche Attentäter ein Manifest, in dem er seine Weltanschauung beschreibt.
Laut diesem erschuf er sich über Jahre eine rechtsextreme Wahnwelt. Psychologin Lydia Benecke hat sein Manifest gelesen und sah darin Verhaltensmuster, die für Amokläufer und Terroristen typisch sind. Im Gespräch erklärt sie, welche Faktoren zu einem Hassverbrechen führen und wie man Verschwörungstheoretiker von ihrer Ideologie lösen kann.
watson: Frau Benecke, wie würden sie das Manifest des mutmaßlichen Täters in Hanau bewerten?
Lydia Benecke: In dem Text werden einige psychische Auffälligkeiten des Verfassers sehr deutlich. Der Mann beschreibt etwa, dass er seit seiner frühesten Kindheit von einem allmächtigen Geheimdienst überwacht worden sei. Zudem glaubte er, dieser Geheimdienst könne Gedanken lesen und Menschen fernsteuern – ihn eingeschlossen. Das sind schon Wahrnehmungen, die man symptomatisch einer Wahnerkrankung zuschreiben würde.
Was genau bedeutet Wahn?
Dass die Wahrnehmung nicht mehr mit der Realität vereinbar ist. Für Betroffene sind diese Überzeugungen nicht verrückbar. Wie rational man dagegen argumentiert, ist dabei egal. Zudem gehen Betroffene davon aus, gesund zu sein und dass andere sie entweder belügen oder falsche Dinge wahrnehmen. Kurz: Die Leute wissen nicht, dass sie krank sind. Und genauso wirkte der mutmaßliche Täter.
Er meint ja auch, dass er schon als Kind überwacht wurde.
Er sagte zwar, dass er sich an alles erinnern konnte, was kurz nach seiner Geburt geschah, aber das ist ausgeschlossen. Hier handelt es sich um eine wahnhaft gefärbte Fehlerinnerung. Dazu kommt noch, dass er den Eindruck hatte, seine Gedanken stünden in direktem Zusammenhang mit dem Weltgeschehen. Etwa meinte er, seine Gedanken hätten Donald Trump in seinen politischen Entscheidungen gesteuert oder in Hollywood zu bestimmten Filmproduktionen geführt.
Das erweckt den Eindruck, als hätte er gedacht, er wäre zu Größerem bestimmt gewesen.
In der Forschung zu Amokläufern und Terroristen zeigt sich, dass es in Bezug auf die Täter manchmal gewisse psychologische Parallelen gibt. In der Literatur wird da als häufig relevanter Faktor ein krankhafter Narzissmus genannt. Demnach wollen diese Menschen großartig sein, verhalten sich aber arrogant und bekommen entsprechend nicht die positive Resonanz, die ihnen ihrer Meinung nach zusteht.
Die Schuld dafür sehen sie aber nicht bei sich. Passend dazu begründete der Verfasser seine lebenslange Partnerlosigkeit im Text unter anderem mit seinen besonders hohen Ansprüchen an Partnerinnen. Dabei äußerte er sich auf Frauen bezogen sehr abwertend und oberflächlich.
Also suchen sie sich Menschen, die sie dafür verantwortlich machen können?
Richtig. Ihr Verhalten treibt sie in eine Spirale von Enttäuschungen, durch die sich immer mehr Wut und Frust anstauen. Das übertragen sie dann auf andere Menschen. Sie suchen sich also Sündenböcke, die schuld an allem Leid auf der Welt sind. Das kann dann an eine gut verfügbare Ideologie inhaltlich andocken.
Zu diesem Gefühls-, Gedanken- und Motivmuster passt die rechtsextremistische Ideologie besonders gut, da sie ein Weltbild mit "wertvollen, guten" und "wertlosen, schlechten" Menschen propagiert, explizit Sündenböcke präsentiert und hierauf aufbauend Gewalt legitimiert. Ideologien mit diesen Kernelementen – zu denen auch der Islamismus gehört – sind also besonders ungünstig im Zusammenspiel mit anderen gewaltbegünstigenden Risikofaktoren.
Der mutmaßliche Täter in Hanau soll laut eigenen Angaben eher unauffällig gewesen sein. Andersherum neigte er anscheinend auch zur Selbstdarstellung. Wie passt das zusammen?
Ich denke, er konnte sich im Alltag normal verhalten. Wenn er von einer Totalüberwachung ausging, wird er wahrscheinlich auch genau überlegt haben, was er wem erzählt und wie er sich wo präsentiert.
Springen denn einige Menschen eher auf Verschwörungsmythen an als andere?
Davon kann man ausgehen. Terrorismusexperten sagen dazu, dass Menschen mit gewissen Grundstrukturen auch im Internet nach bestimmten Informationen suchen, die häufig aus Quellen für Verschwörungsmythen kommen und/oder im Zusammenhang mit extremistischen Ideologien stehen. Das Tragische ist, dass deren bestehende Grundannahmen durch diese Quellen bestärkt werden.
Zudem entwickeln sie ein Zugehörigkeitsgefühl, weil sie Gleichgesinnte finden.
Und das kann einen Verstärkungseffekt haben. Gerade einige psychisch instabile oder sogar schwerer erkrankte Menschen – besonders, wenn sie grundlegend eine frustriert narzisstische und/oder paranoide Persönlichkeitsstrukur und/oder sogar eine Wahnentwicklung aufweisen – können sich in so einer Welt schnell verlieren.
Von den meisten psychisch erkrankten Menschen geht keine Gefahr aus, doch es gibt eben den statistisch kleinen Teil Erkrankter, deren Symptome sich durch den ständigen Konsum fragwürdiger Internetquellen verstärken und das Gewaltpotenzial erhöhen können. Das kann begünstigen, dass jemand loszieht und eine Straftat begeht.
Worin besteht überhaupt der Reiz von Verschwörungsmythen?
Oft spielt Selbstaufwertung eine Rolle, also der Glaube, Dinge zu sehen, die sonst keiner wahrnimmt. Teilweise können psychische Erkrankungen dazu führen. Teilweise aber auch Lebensfrust. Manche sind unglücklich und fühlen sich hilflos, also suchen sie sich jemanden, der dafür verantwortlich ist. Bestenfalls einen übermächtigen Gegner. Auf diesen projizieren sie dann ihren Frust.
Aber genau das kostet einiges an Überwindung.
Deswegen spielen viele Faktoren eine Rolle. Neben den psychischen Problemen kommen bei denen, die tatsächlich zu Tätern werden, häufig viele Jahre geprägt von Frustration hinzu. Dieser Frust erzeugt Wut, Wut erzeugt Hass und den übertragen sie auf die Sündenböcke. Entsprechend rechtfertigen sie es dann, wenn sie gegen diese vorgehen. Im Anschluss etwas zu hinterlassen, wie ein Manifest oder Bekennerschreiben, dient dann dazu, zusätzlich Aufmerksamkeit zu bekommen.
Inwiefern?
Die mutmaßliche Täter wollen als mächtig und wichtig wahrgenommen werden. Deshalb sind sie oft auch Waffennarren. Gerade Waffen symbolisieren Macht.
Tendieren Verschwörungsmythenvertreter dazu, alles von Gedankenkontrolle bis zu Chemtrails zu glauben oder halten sie bewusst an einer Theorie fest?
Das kann von Fall zu Fall variieren. Aber es scheint eine Tendenz zu geben, dass Menschen, die an einen Verschwörungsmythos glauben, auch geneigter sind, diesen um andere zu erweitern und zu kombinieren. Bei dem mutmaßlichen Täter in Hanau war das anscheinend der Fall. Etwa erwähnt er in seinen Hinterlassenschaften auch einen Verschwörungsmythos, demzufolge Teile der US-Elite zu einem satanischen Pädophilenring gehören würden.
In den umfassenden schriftlichen Darlegungen von Hanau standen allerdings die rassistische Ideologie und mit ihr zusammenhängende, politische Vorstellungen, im Vordergrund.
Genau. Das wird durch Zitate wie dieses verdeutlicht: "Einerseits ist mein Volk mit dafür verantwortlich, dass wir die Menschheit als Ganzes emporgehoben haben, andererseits haben offenbar gewisse Personen aus meinem eigenen Land mit dazu beigetragen, dass wir nun Volksgruppen, Rassen oder Kulturen in unserer Mitte haben, die in jeglicher Hinsicht destruktiv sind."
Der mutmaßliche Täter wollte nach eigener Aussage weltweit alle Menschen ausrotten, die er seinem rassistischen Konzept zufolge als minderwertig und schädlich einstufte. Offenbar hat er sich viele rechtsextreme Vorstellungen und Konzepte angeeignet, die sich im Zusammenspiel mit seinem Narzissmus und dem Wahn gegenseitig aufschaukelten.
Gibt es denn eine Möglichkeit, Menschen von ihren Theorien abzubringen?
Das ist schwierig. Jemanden, der wirklich eine Wahnerkrankung hat, kann man nicht mal eben davon abbringen. Da gibt es dann einfach keine Chance mehr, mit Argumenten durchzudringen. Denn die komplette Wahrnehmung ist durch diese schwere Erkrankung gestört. Das ist auch der Grund, warum man bei einer wirklichen Wahnerkrankung medikamentös etwas tun muss – unterstützt durch Psychotherapie. Nur reden hilft da nicht.
Und wenn diese Person keine Wahnerkrankung hat?
Diskussionen über die rationalen Schwachpunkte und Widersprüche von Verschwörungsmythen kann man mit Menschen führen, die noch nicht völlig von diesen überzeugt sind. Die "wirklich Gläubigen" sind der vernunftorientierten Argumentation gegenüber meist nicht zugänglich. Da kann es helfen, die Motivebene anzusprechen.
Wie sähe so ein Gespräch aus?
Es hilft zu fragen, was der Person wichtig ist, wie es ihr geht und was sie so in ihrem Leben erlebt oder vermisst hat. Das ist zwar anstrengend, aber ein guter Weg. Tatsächlich ist die Strategie vergleichbar mit Methoden, die auch im Kontext von Deradikalisierung angewendet werden. Ein Kollege hat islamische Extremisten im Gefängnis deradikalisiert. Er sagte mir, dass es überhaupt keinen Sinn mache, mit denen über irgendwelche religiösen Konstrukte zu reden. Die sind meist nur ein Überbau für etwas Anderes.
Also geht er auf Ursachensuche?
Richtig. Er versucht es mit ganz normalen Fragen, die sich vielmehr auf die Person an sich beziehen. Wenn man die Motivebene unter der Ideologie anspricht, kann das eventuell was bringen. Über diese Themen kann man eine Person im besten Fall erreichen und mit ihr konstruktive Strategien zur Lösung von Problemen und dem Schaffen einer wirklichen Lebenszufriedenheit erarbeiten. Dann kann es sein, dass dieser Mensch diese Ideologie nicht mehr braucht.